Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalón vom 11. Juli 2013 (Rechtssache C‑394/12)

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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 11. Juli 2013

Rechtssache C‑394/12

Shamso Abdullahi

gegen

Bundesasylamt

(Vorabentscheidungsersuchen des Asylgerichtshofs [Österreich])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Recht auf Asyl – Art. 18 der Charta der Grundrechte – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats – Stellung des Asylantrags in einem Mitgliedstaat, nachdem der Antragsteller nacheinander in zwei anderen Mitgliedstaaten in die Union eingereist war – Wirkung der Zuständigkeitsübernahme durch den Mitgliedstaat der zweiten Einreise – Recht des Antragstellers, der Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats entgegenzutreten – Umfang der gerichtlichen Überprüfung gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (verbundene Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10)“



1. Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof einmal mehr Gelegenheit zur Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003, und zwar dieses Mal vor allem im Hinblick auf die Reichweite des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfs und die Anwendung des in der Verordnung vorgesehenen Kriteriums, wonach für die Prüfung eines Asylantrags der Mitgliedstaat zuständig ist, in den der Antragsteller illegal eingereist ist. Daneben ist erneut der Fall von Mitgliedstaaten angesprochen, die sich in der Lage befinden, welche Anlass für das Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., war.

2. Ich werde dem Gerichtshof eine Auslegung vorschlagen, nach der die Reichweite des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs begrenzt ist, womit sich die Beantwortung der übrigen Fragen als nicht notwendig erweist, die ich indessen lediglich hilfsweise erörtern werde. Unter diesem Blickwinkel würde es die vorliegende Rechtssache dem Gerichtshof erlauben, Leitlinien für die Anwendung der in der Verordnung festgelegten Kriterien in den Fällen aufzustellen, in denen sich der Schluss ergibt, dass der grundsätzlich zuständige Mitgliedstaat aus Gründen des Grundrechtsschutzes nicht der zuständige Staat sein kann.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

1. Die Verordnung Nr. 343/2003

3. Nach ihrem Art. 1 legt die Verordnung „die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen“.

4. Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

  • „(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
  • (2) Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.“

5. Nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung wird „[d]as Verfahren zur Bestimmung des gemäß dieser Verordnung zuständigen Mitgliedstaats … eingeleitet, sobald ein Asylantrag erstmals in einem Mitgliedstaat gestellt wurde“.

6. In Kapitel III („Rangfolge der Kriterien“) (Art. 5 bis 14) der Verordnung werden die für die Bestimmung des „zuständigen Mitgliedstaats“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 relevanten Kriterien aufgeführt.

7. Art. 16 der Verordnung Nr. 343/2003, mit dem ihr Kapitel V („Aufnahme und Wiederaufnahme“) beginnt, sieht in seinem Abs. 1 vor:

  • „(1) Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:
    • a) einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 17 bis 19 aufzunehmen;
    • b) die Prüfung des Asylantrags abzuschließen;
    • c) einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, … wieder aufzunehmen;
    • d) einen Asylbewerber, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, … wieder aufzunehmen;
    • e) einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag er abgelehnt hat und der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, … wieder aufzunehmen.
  • (3) Die Verpflichtungen nach Absatz 1 erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, der Drittstaatsangehörige ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels.“

8. In Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:

„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrags … den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen.“

9. Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

  • „(1) Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten, nachdem er mit dem Gesuch befasst wurde.
  • (7) Wird innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Absatz 1 bzw. der Frist von einem Monat gemäß Absatz 6 keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.“

10. Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor:

  • „(1) Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.
  • (2) Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben, und gegebenenfalls der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Asylbewerber zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen die Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.
  • (4) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung oder die Prüfung des Antrags aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist.“

2. Die Richtlinie 2005/85/EG

11. Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal haben gegen

  • a) eine Entscheidung über ihren Asylantrag …
  • …“

B – Nationales Recht

12. Gemäß § 18 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl von 2005 haben das Bundesasylamt und der Asylgerichtshof in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrags geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrags notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

II – Sachverhalt

13. Frau Abdullahi, die die somalische Staatsangehörigkeit besitzt, reiste im Juli 2011 von der Türkei aus illegal nach Griechenland ein. Von dort aus gelangte sie mit Hilfe eines Schleppernetzes über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo sie nahe der Grenze zu Ungarn von der Polizei angehalten wurde.

14. Am 29. August 2011 reichte sie in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Am 7. September 2011 stellte das Bundesasylamt gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ein Aufnahmeersuchen an die Republik Ungarn. Mit Schreiben vom 29. September 2011 stimmte die Republik Ungarn dem Aufnahmeersuchen zu.

15. Am 30. September 2011 wies das Bundesasylamt den Asylantrag von Frau Abdullahi in Österreich als unzulässig zurück und wies sie in die Republik Ungarn aus.

16. Hiergegen erhob Frau Abdullahi Beschwerde beim Asylgerichtshof, der diese mit aufschiebender Wirkung zur Behandlung annahm. Dies wurde der Republik Ungarn am 8. November 2011 mitgeteilt.

17. Der Asylgerichtshof gab der Beschwerde mit Entscheidung vom 5. Dezember 2011 wegen Verfahrensfehlern statt.

18. Das Bundesasylamt, das daraufhin das Verwaltungsverfahren wiederaufnahm, wies den Asylantrag am 26. Januar 2012 erneut zurück und sprach neuerlich die Ausweisung nach Ungarn aus, weil dies der nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständige Staat sei. Das Bundesasylamt stellt zugleich fest, dass eine Überstellung der Antragstellerin nach Ungarn sie nicht in ihren Rechten nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzen würde.

19. Frau Abdullahi erhob wiederum Beschwerde beim Asylgerichtshof, wobei sie erstmals geltend machte, dass Griechenland und nicht Ungarn der eigentlich zuständige Mitgliedstaat für die Prüfung ihres Asylverfahrens sei. Da die Zustände in Griechenland aber menschenunwürdig seien, habe Österreich das Asylverfahren selbst durchzuführen.

20. Die Beschwerde wurde mit Entscheidung vom 14. Februar 2012 zurückgewiesen.

21. Frau Abdullahi erhob dagegen Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof, der dieser am 23. März 2012 aufschiebende Wirkung zuerkannte, was der Republik Ungarn am 2. April 2012 mitgeteilt wurde.

22. Mit Entscheidung vom 27. Juni 2012 gab der Verfassungsgerichtshof der Beschwerde mit der Begründung statt, dass die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden sei.

23. Die Rechtssache wurde damit wieder beim Asylgerichtshof anhängig, der daraufhin die Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens beschloss.

III – Vorlagefragen

24. Die Vorabentscheidungsfragen lauten:

  • 1. Ist Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 in Verbindung mit Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen, dass mit der Zustimmung eines Mitgliedstaats nach diesen Bestimmungen dieser Mitgliedstaat jener ist, der im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Einleitungssatz der Verordnung Nr. 343/2003 zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, oder muss die nationale Überprüfungsinstanz unionsrechtlich, wenn sie im Zuge eines Verfahrens über einen Rechtsbehelf nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 – unabhängig von dieser Zustimmung – zur Anschauung gelangt, dass ein anderer Staat gemäß dem Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 der zuständige Mitgliedstaat wäre (auch wenn an diesen Staat kein Aufnahmeersuchen gerichtet wurde oder er keine Zustimmung erklärt), die Zuständigkeit dieses anderen Mitgliedstaats für ihr Verfahren zur Entscheidung über den Rechtsbehelf als verbindlich feststellen? Bestehen insofern subjektive Rechte jedes Asylwerbers auf Prüfung seines Asylantrags durch einen bestimmten nach diesen Zuständigkeitskriterien zuständigen Mitgliedstaat?
  • 2. Ist Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen, dass der Mitgliedstaat, in welchem eine erste illegale Einreise erfolgt („erster Mitgliedstaat“), bei Verwirklichung folgenden Sachverhalts seine Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags eines Drittstaatsangehörigen anzuerkennen hat:

Ein Drittstaatsangehöriger reist aus einem Drittstaat kommend illegal in den betreffenden ersten Mitgliedstaat ein. Er stellt dort keinen Asylantrag. Er reist sodann in einen Drittstaat aus. Nach weniger als drei Monaten reist er aus einem Drittstaat in einen anderen Mitgliedstaat der EU („zweiter Mitgliedstaat“) illegal ein. Aus diesem zweiten Mitgliedstaat begibt er sich sogleich direkt weiter in einen dritten Mitgliedstaat und stellt dort seinen ersten Asylantrag. Zu diesem Zeitpunkt sind weniger als zwölf Monate seit der illegalen Einreise in den ersten Mitgliedstaat vergangen.

  • 3. Ist unabhängig von der Beantwortung der Frage 2, wenn es sich bei dem dort genannten „ersten Mitgliedstaat“ um einen Mitgliedstaat, dessen Asylsystem festgestellte systemische Mängel aufweist, die jenen im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 (M. S. S., Rechtssache 30696/09) beschriebenen gleichkommen, handelt, eine andere Beurteilung des primär zuständigen Mitgliedstaats im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003, ungeachtet des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, geboten? Kann etwa im Besonderen davon ausgegangen werden, dass ein Aufenthalt in einem solchen Mitgliedstaat von vornherein nicht geeignet ist, einen zuständigkeitsbegründenden Sachverhalt im Sinne des Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 darzustellen?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

25. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 27. August 2012 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

26. Das vorlegende Gericht hat mit Hinweis auf die kurzen innerstaatlichen Verfahrensfristen, die für Frau Abdullahi bestehende Situation der Ungewissheit, die Bedeutung der Vorlagefragen und die zahlreichen Verfahren, in denen sich die gleichen Fragen stellen, angeregt, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104a der Verfahrensordnung in der Fassung vom 19. Juni 1991 dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Der Präsident des Gerichtshofs hat diesen Antrag mit Beschluss vom 5. Oktober 2012 zurückgewiesen, jedoch gemäß Art. 55 Abs. 2 der Verfahrensordnung angeordnet, dass die Rechtssache mit Vorrang behandelt wird.

27. Frau Abdullahi, die griechische, die italienische, die österreichische und die ungarische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die Schweizerische Eidgenossenschaft und die Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben.

28. In der mündlichen Verhandlung vom 7. Mai 2013 haben Frau Abdullahi, die französische Regierung, die griechische Regierung und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht. Auf Vorschlag des Gerichtshofs haben die Beteiligten ihre Ausführungen auf die folgenden Punkte konzentriert: (A) Charakter des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs und Bedeutung des Umstands, dass dieser Rechtsbehelf in Art. 39 der Richtlinie 2005/85 nicht erwähnt ist, (B) Vereinbarkeit der Rechtmäßigkeitskontrolle bezüglich der Zuständigkeitskriterien mit der Frist des Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 und Durchführung stattgebender Entscheidungen über den Rechtsbehelf in der Praxis, (C) Auslegung der in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Frist von zwölf Monaten und (D) Einschlägigkeit von Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats.

V – Würdigung

A – Zur ersten Frage

29. Wie der Asylgerichtshof in dem Vorlagebeschluss erläutert hat, möchte er mit der ersten Frage vor allem klären lassen, ob die von einem Mitgliedstaat ausgesprochene Zustimmung, einen Asylantrag als in seine Zuständigkeit fallend zu bearbeiten, die Möglichkeit ausschließt, dass – im Rahmen des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs – überprüft wird, ob nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien in Wirklichkeit ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist.

30. Konkreter möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Antragsteller im Wege dieses Rechtsbehelfs ein etwaiges subjektives Recht darauf geltend machen kann, dass sein Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der sich nach den Kriterien der Verordnung Nr. 343/2003 als der zuständige Mitgliedstaat erweist.

31. Der Asylgerichtshof neigt der Auffassung zu, dass die Zustimmung eines Mitgliedstaats maßgebend sein müsse, um seine Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags zu begründen, wobei als einzige Ausnahmen offensichtliche Willkür oder die Gefahr von Rechtsverletzungen anzuerkennen sei. In solchen Fällen, wenn sie in dem entsprechenden Verfahren festgestellt worden seien, habe das nationale Gericht in bindender Weise die Zuständigkeit des Mitgliedstaats festzustellen, die sich aus der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 ergebe.

32. Die Antwort, die auf den ersten Teil der Frage zu geben ist, scheint mir eindeutig zu sein. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass die Zustimmung zur Aufnahme gemäß Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003 nicht vergleichbar ist mit der Übernahme der Zuständigkeit nach der Regelung des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung, in der die sogenannte „Souveränitätsklausel“ enthalten ist. Denn während es sich im letzteren Fall um die Ausübung einer Ermessensbefugnis – und in diesem Sinne souveränen Befugnis – handelt, die der Kontrolle durch die Gerichte entzogen ist, haben wir im Fall der Zustimmung gemäß Art. 18 einen Rechtsakt vor uns, der als Grundlage dafür dient, dass der Mitgliedstaat, bei dem der Asylantrag eingereicht wurde, die Entscheidung trifft, den Antrag nicht zu prüfen und den Antragsteller an den Mitgliedstaat zu überstellen, der diese Prüfung übernommen hat, wobei gegen diese doppelte Entscheidung nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 „ein Rechtsbehelf eingelegt werden [kann]“.

33. Kurz gesagt, ist es die zweite der in der Frage des vorlegenden Gerichts genannten Alternativen, auf die es ankommt. Die Frage ist deshalb nicht, ob ein „Rechtsbehelf“ besteht, sondern in welchem Umfang die Kontrolle der Entscheidung möglich ist, mit der die Prüfung des Asylantrags abgelehnt und die Überstellung des Antragstellers an den Mitgliedstaat angeordnet wird, der der Übernahme dieser Zuständigkeit zugestimmt hat.

34. Über diesen speziellen Punkt wird in der Verordnung Nr. 343/2003 nichts gesagt, die in ihrem Art. 19 Abs. 2 lediglich vorsieht, dass der „Rechtsbehelf … keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung [hat], es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist“. Unter diesen Umständen können die mit der Verordnung Nr. 343/2003 verfolgten Ziele als Leitlinie dienen, um eine Auslegung des Art. 19 Abs. 2 zu finden, aus der sich ergibt, welcher Sinn dem darin vorgesehenen Rechtsbehelf beizumessen ist und welchen Umfang folglich die mit diesem prozessualen Mittel ausgeübte Kontrolle haben muss.

35. Mit der Verordnung Nr. 343/2003 wird im Wesentlichen die Schaffung eines Verfahrens bezweckt, das – wie es im vierten Erwägungsgrund der Verordnung heißt – „eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“ ermöglicht. Hierin liegt meiner Auffassung nach das grundlegende Ziel der Verordnung, in dessen Dienst jede einzelne ihrer Bestimmungen steht. So insbesondere die Regelung der Fristen in Kapitel V der Verordnung und die Aufstellung einer Gesamtheit von objektiven Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, mit denen, außer der Gewährleistung eines vereinfachten Verfahrens, das sogenannte forum shopping vermieden werden soll, so dass die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht den Zufällen des Verhaltens der Antragsteller überlassen bleibt.

36. Darum lässt sich in Anknüpfung an die Überlegungen des Generalanwalts Jääskinen in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Puid sagen, dass die Verordnung Nr. 343/2003 ihrem Hauptziel nach „nicht darauf gerichtet [ist], Rechte des Einzelnen zu begründen, sondern die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu ordnen“, wenngleich sie auch „einige Elemente enthält, die für die Rechte der Asylbewerber nicht ohne Bedeutung sind“.

37. Die Verordnung Nr. 343/2003 regelt die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu dem Zweck der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Das ordnungsmäßige Funktionieren des durch die Verordnung geschaffenen Mechanismus für diese Zuständigkeitsbestimmung ist deshalb eine Frage, die unmittelbar die Mitgliedstaaten betrifft, denn es ist die Ausübung ihrer Befugnisse der öffentlichen Gewalt, die in erster Linie von der Anwendung dieser Unionsregelung betroffen ist.

38. Diese Befugnisse sind aber auszuüben in Erfüllung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Bereich des Rechts auf Asyl, das durch Art. 18 der Charta der Grundrechte „nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ gewährleistet wird.

39. Das Grundrecht auf Asyl ist somit, obgleich in mittelbarer oder indirekter Weise, ebenfalls von der Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 betroffen. Darum haben, auch wenn die Mitgliedstaaten die an der ordnungsmäßigen Anwendung der Verordnung hauptsächlich Interessierten sind, auch die Asylbewerber ein rechtmäßiges Interesse hieran. Ich glaube jedoch nicht, dass dieses Interesse so weit reicht, dass es sich in ein subjektives Recht verwandelte, durch das ein Anspruch darauf begründet würde, dass der Asylantrag von einem bestimmten Mitgliedstaat geprüft wird.

40. Meiner Auffassung nach muss für die richtige Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 berücksichtigt werden, dass es letztlich darum geht, die effektive Ausübung des Rechts auf Asyl zu gewährleisten. Die Verordnung Nr. 343/2003 bildet einen grundlegenden Teil der Gesamtheit des von der Union konzipierten Regelungssystems, um die Wahrnehmung dieses Grundrechts zu gewährleisten. Dieses System, dessen oberste Normsetzungen heute die in Art. 18 der Charta der Grundrechte enthaltene Gewährleistung dieses Rechts und der in Art. 78 Abs. 1 AEUV niedergelegte Auftrag zur Entwicklung einer gemeinsamen Politik auf diesem Gebiet darstellen, besteht im Wesentlichen, außer der uns hier beschäftigenden Verordnung, aus den Mindestnormen für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus in der Richtlinie 2004/83/EG und aus den verfahrensrechtlichen Mindestnormen in der Richtlinie 2005/85.

41. Die Verordnung Nr. 343/2003 ist daher wie alle Regelungen der Union, die zum System der Gewährleistung des Grundrechts auf Asyl gehören, letztlich als ein normatives Instrument im Dienste dieser Rechtsgarantie zu verstehen. Aus dieser grundsätzlichen Perspektive heraus beruht nach meinem Verständnis der Geist dieses Systems auf dem Gedanken, dass die Union in ihrer Gesamtheit für jeden Asylbewerber ein „sicheres Gebiet“ bildet. Mit dem Betreten des Unionsgebiets gelangt derjenige, der auf der Flucht vor jenen Umständen und Bedingungen ist, die seine Flucht ausgelöst haben und die die Gewährung des Asylrechts begründen können, in einen Raum, in dem dieser Schutz gesichert ist. Im Hinblick auf das Asyl sind die gesamte Union und jeder einzelne ihrer Mitgliedstaaten „sicheres Gebiet“, denn gerade diese Vermutung bildet das Fundament des Vertrauens, das dem Zusammenschluss der Mitgliedstaaten im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zugrunde liegt. Gewiss handelt es sich dabei, wie wir im Folgenden sehen werden, keinesfalls um eine Vermutung, die unwiderlegbar wäre.

42. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, wird der Kern des in Art. 18 der Charta der Grundrechte garantierten Grundrechts auf Asyl mit der Einreise in die Union gesichert, so dass der Inhaber dieses Rechts sich nicht dadurch beeinträchtigt sehen kann, dass die Prüfung seines Antrags dem einen oder dem anderen der Mitgliedstaaten obliegt. Denn in jedem von ihnen ist, zumindest übergangsweise, die ordnungsmäßige Wahrnehmung dieses Rechts hinreichend sichergestellt, die der Betroffene in jedem Fall mittels des in Art. 39 der Richtlinie 2005/85 vorgesehenen Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen über seinen Asylantrag in der Sache oder die Auswirkungen von dessen Bearbeitung, bezeichnenderweise jedoch nicht gegen Entscheidungen über die Bestimmung des für die Prüfung dieses Antrags zuständigen Mitgliedstaats, geltend machen kann

43. Dies nimmt ihm aber jedenfalls nicht ein berechtigtes Interesse an der ordnungsmäßigen Bestimmung des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaats. Tatsächlich ist in der Verordnung Nr. 343/2003 selbst der Anspruch auf einen Rechtsbehelf gegen die hierüber ergehende Entscheidung anerkannt. Da aber der Kern seines Grundrechts grundsätzlich nicht durch den Umstand berührt wird, dass sein Antrag von einem ganz bestimmten Mitgliedstaat bearbeitet wird, besitzt meiner Auffassung nach das Recht, dass der Antragsteller mittels des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs geltend machen kann, einen begrenzten Umfang, der im Übrigen vollkommen mit dem Wesen der Verordnung Nr. 343/2003 als einer Regelung in Einklang steht, die vor allem der Ordnung des Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten in der Verwaltung des Asylsystems der Union dient.

44. Meines Erachtens kann dieser Rechtsbehelf nur die Einhaltung der Verordnung im Hinblick auf zwei Aspekte zum Gegenstand haben: (A) das Vorliegen von Umständen, die die Vermutung der Wahrung der Grundrechte widerlegen können, auf der das System der Union beruht, und (B) die Anerkennung bestimmter spezieller Rechte durch die Verordnung Nr. 343/2003, die mit dem eigentlichen Asylrecht einhergehen, und ihre entsprechende Gewährleistung.

45. Was den ersten Aspekt angeht, wären wir damit bei den Umständen des Falls, durch den das Urteil N. S. u. a. veranlasst wurde und auf den ich später, nämlich bei der Beantwortung der dritten Frage, zurückkommen werde. Es handelt sich hier um eine Fallgestaltung, in der die Grundlage des Systems der Verordnung Nr. 343/2003 als solche in Frage steht, die nichts anderes ist als das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten darauf, dass in jedem von ihnen die Voraussetzungen gewahrt sind, die die gebührende Achtung der Grundrechte der Asylbewerber sicherstellen.

46. Der zweite Aspekt besteht meines Erachtens in den Rechten, die die Verordnung Nr. 343/2003 dem Asylbewerber speziell im Verlauf des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaats gewährt. So verhält es sich mit den Rechten im Hinblick auf die Familienzusammenführung (Art. 7, 8, 14, 15), den Rechten bei Minderjährigkeit (Art. 6) oder den Rechten im Zusammenhang mit einem zügigen Verfahren (Einhaltung von Fristen und Umsetzung der in jedem einzelnen Fall vorgesehenen Rechtsfolgen, wie z. B. Art. 19 Abs. 4). Alles dieses sind Rechte, die letztlich über die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten im Bereich der durch die Verordnung Nr. 343/2003 geregelten Beziehungen hinausgehen und die dem Asylbewerber ein spezifisches und eigenes subjektives Recht verleihen, das sich zudem stets auf einen durch eine Grundrechtsgarantie geschützten Bereich bezieht: das Recht auf Schutz des Familienlebens (Art. 7 und 33 der Charta der Grundrechte), das Recht auf Schutz von Kindern (Art. 24 der Charta der Grundrechte) und das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41 der Charta der Grundrechte). Es handelt sich bei diesen Rechten letzten Endes nicht um einen bloßen Anspruch auf ordnungsmäßige Abwicklung eines Verfahrens, in dem hauptsächlich die Mitgliedstaaten betreffende Fragen gelöst werden, sondern um den Anspruch darauf, dass bei der Lösung dieser Fragen bestimmte Rechte und Interessen beachtet werden, die Schutzgegenstand bestimmter Grundrechte sind.

47. Als Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass sich der Asylbewerber des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs nur bedienen kann, um einer Anwendung der Kriterien der Verordnung entgegenzutreten, die entweder zur Festlegung der Zuständigkeit – mit allen damit einhergehenden Verpflichtungen – eines Mitgliedstaats führt, der eine mit den Grundrechten des Antragstellers vereinbare Behandlung nicht sicherzustellen vermag, oder mit der Kriterien der Zuständigkeitsbestimmung nicht eingehalten werden, die auf dem Asylbewerber in der Verordnung selbst speziell zuerkannten subjektiven Rechten beruhen.

48. Begrenzt man den Blick auf die Umstände des im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalts, bin ich deshalb der Auffassung, dass Frau Abdullahi der Bestimmung von Ungarn als den für die Bearbeitung ihres Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat nur mit dem Vorbringen entgegentreten könnte, dass ihre Überstellung an diesen Mitgliedstaat mit dem Schutz ihrer Grundrechte unvereinbar ist oder dass die österreichischen Behörden Bestimmungskriterien außer Acht gelassen haben, die auf Frau Abdullahi in der Verordnung Nr. 343/2003 speziell zuerkannten subjektiven Rechten beruhen.

B – Zur zweiten Frage

49. Nach dem vorstehend Gesagten ist meines Erachtens die zweite Frage des Asylgerichtshofs nicht mehr erheblich.

50. Denn die Bestimmung von Ungarn als zuständigem Mitgliedstaat – das ist die Frage, um die es im Ausgangsverfahren geht – könnte im Rahmen des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs nur widerrufen werden, wenn sich erwiese, dass Ungarn nicht in der Lage ist, den Schutz der Grundrechte von Frau Abdullahi zu gewährleisten, oder wenn die österreichischen Behörden Kriterien der Verordnung außer Acht gelassen hätten, die auf Umständen beruhen, welche ein subjektives Recht der Asylbewerberin begründen, wie dies bei Minderjährigkeit oder der Existenz von Familienangehörigen in anderen Mitgliedstaaten der Fall sein kann.

51. Über diese beiden Punkte hat in jedem Fall das vorlegende Gericht zu befinden. Hier kommt es jedoch nur darauf an, dass hierfür nicht bestimmt zu werden braucht, welches für die Zwecke der Verordnung Nr. 343/2003 der „erste Mitgliedstaat“ war, in dem die Asylbewerberin in die Union eingereist ist. Und zwar deshalb, weil im Rahmen des Rechtsbehelfs nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung die einzigen in Betracht kommenden Mitgliedstaaten in jedem Fall Ungarn (als der in der angefochtenen Entscheidung bestimmte Mitgliedstaat) und eventuell die Mitgliedstaaten sind, in denen Frau Abdullahi Familienangehörige besitzt, oder schließlich Österreich selbst, wenn der in Art. 19 Abs. 4 der Verordnung vorgesehene Fall vorläge (also die angeordnete Überstellung an Ungarn nicht in der dort festgelegten Frist stattfände).

52. Über welchen Staat Frau Abdullahi in das Unionsgebiet eingereist ist, ist darum unerheblich. Damit will ich nicht sagen, dass die fehlerfreie Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 in jedem Fall zu dem Ausschluss des Kriteriums des Einreisemitgliedstaats führen müsste. Vielmehr möchte ich damit sagen, dass auch dann, wenn – einmal als Hypothese unterstellt – dies das Kriterium wäre, das hätte angewendet werden müssen, feststünde, dass die fehlerhafte Anwendung der Verordnung keine Verletzung eines subjektiven Rechts von Frau Abdullahi bedeutete, die mittels des in Art. 19 Abs. 2 vorgesehenen Rechtsbehelfs geltend gemacht werden könnte. Wie ich bereits ausgeführt habe, besitzt die Asylbewerberin kein subjektives Recht auf die ordnungsmäßige Anwendung der Verordnung in allen ihren Aspekten, sondern nur auf die fehlerfreie Anwendung derjenigen konkreten Kriterien, die auf in der Verordnung speziell zuerkannten subjektiven Rechten beruhen.

53. Dennoch werde ich hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof die zweite Frage des Asylgerichtshofs zu beantworten beabsichtigt, im Folgenden zu dieser Sachfrage Stellung nehmen.

54. Wenn das nationale Gericht im Rahmen des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs die Verwaltungsentscheidung in allen Punkten sachlich abändern und folglich in Anwendung der in der Verordnung festgelegten Kriterien die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats selbst vornehmen könnte, stellt sich dem Asylgerichtshof unter den Umständen des vorliegenden Falls das Problem, wie Art. 10 Abs. 1 der Verordnung auszulegen ist, der das Kriterium der illegalen Einreise über einen bestimmten Mitgliedstaat enthält.

55. Der Asylgerichtshof ersucht den Gerichtshof nicht um eine Entscheidung darüber, ob Frau Abdullahi über den von ihm so benannten „ersten Mitgliedstaat“ in die Union eingereist ist oder nicht, sondern die zweite Frage beruht auf der Prämisse, dass die erste Einreise in diesen Mitgliedstaat stattfand. Vielmehr geht die Frage dahin, ob diese Einreise als die „maßgebende Einreise“ für die Zwecke der Anwendung des in Art. 10 Abs. 1 normierten Kriteriums anzusehen ist.

56. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts – der sich die griechische, die italienische und die österreichische Regierung sowie die Schweizerische Eidgenossenschaft anschließen – ist die „maßgebende Einreise“ nur die in den „zweiten Mitgliedstaat“ (Ungarn). Ihrer Auffassung nach endete die erste Reise von Frau Abdullahi in die Union damit, dass sie den „ersten Mitgliedstaat“ (Griechenland) verließ. Die zweite Einreise in den „zweiten Mitgliedstaat“ sei daher Ergebnis einer neuen Reise – die einzige, auf die es ihrer Ansicht nach ankommt.

57. Dagegen vertreten sowohl die Kommission als auch das Vereinigte Königreich sowie die französische und die ungarische Regierung und auch Frau Abdullahi die Auffassung, dass die maßgebende Einreise die in den „ersten Mitgliedstaat“ war, wobei sie dem Umstand besondere Bedeutung zumessen, dass keine der in Art. 10 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Fristen abgelaufen war. Dies ist meines Erachtens tatsächlich ein entscheidender Gesichtspunkt für die Lösung des sich stellenden Problems.

58. Auch wenn das vorlegende Gericht von zwei „Reisewegen“ spricht, ist nach meinem Dafürhalten unter den Umständen des vorliegenden Falls nur von einem einzigen zu sprechen.

59. Nach den Angaben des Asylgerichtshofs steht fest, dass die Reise von Frau Abdullahi im April 2011 mit einem Flug von einem unbekannten Ort aus nach Syrien begann und in Österreich endete, wo sie polizeilich angehalten wurde und am 29. August 2011 Asyl beantragte. Um nach Österreich zu gelangen, legte sie folglich eine Reisestrecke zurück, die sie von Syrien in die Türkei und von diesem Land aus auf dem Seeweg nach Griechenland führte, in das sie im Juli 2011 einreiste, um sodann die Reise auf dem Landweg durch Griechenland hindurch in einen Drittstaat fortzuführen, nach dessen Durchquerung und der weiterer Drittstaaten sie über Ungarn erneut in die Union einreiste und sich schließlich nach Österreich begab.

60. Meines Erachtens erscheint ungeachtet ihrer geografischen Unstetigkeit die von Frau Abdullahi zurückgelegte Reisestrecke eher als eine einzige und fortgesetzte: von (ihrem Herkunftsland) Somalia oder nach gesicherter Feststellung jedenfalls Syrien aus bis – ununterbrochen – nach Österreich, wo sie schlussendlich Asyl beantragte. Die Kontinuität und Einheit der Reisestrecke ergibt sich meiner Ansicht nach aus ihrer zeitlichen Dimension, weil die zurückgelegte Strecke in einem sehr begrenzten Zeitraum zurückgelegt wurde, der praktisch unvermeidbar war, um unter den Bedingungen der Heimlichkeit, die für die gesamte Reise von Frau Abdullahi kennzeichnend waren, das Reiseziel zu erreichen. Sicherlich steht keineswegs fest, dass das von Frau Abdullahi gewünschte Reiseziel Österreich war, wo sie angehalten wurde, als sie vielleicht ihren Reiseweg in einen anderen Mitgliedstaat fortsetzen wollte. Was aber meines Erachtens außer Zweifel steht, ist die Tatsache, dass ihr – wenn dies so ausgedrückt werden kann – „Reiseziel“ nicht Griechenland war, wo sie im Juli 2011 eintraf und das sie möglicherweise im selben Monat wieder verließ, da sie im August nach Durchquerung verschiedener Mitgliedstaaten und zudem Ungarns Asyl in Österreich beantragte.

61. Dennoch kommt dieser sozusagen „idealen“ Kontinuität der Reise von Frau Abdullahi nur ein relatives Gewicht zu. Wichtiger ist der Umstand, dass Frau Abdullahi das Unionsgebiet erstmals in Griechenland als erstes „sicheres Gebiet“ betrat und dass diese Tatsache kraft der Regelung des Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats auslöste, die erst zwölf Monate nach dem Zeitpunkt dieser illegalen Einreise erlischt.

62. Hieraus ergeben sich zwei Erwägungen. Erstens kann angesichts der Kontinuität der Reisestrecke, die Frau Abdullahi von ihrem Ausgangsort bis zu dem Ort ihrer Festnahme und Asylantragstellung zurücklegte, davon ausgegangen werden, dass sie mit ihrer Ausreise aus Griechenland die Union nicht verlassen, sondern vielmehr ihre Reise in einen anderen Mitgliedstaat fortsetzen wollte. Die geografische Lage Griechenlands konnte, um einen erleichterten und kostengünstigen Reiseweg zu finden, vernünftigerweise eine Route notwendig machen, die durch mehrere Drittstaaten führte, ohne dass bei der Ausreise aus Griechenland zur Durchquerung dieser Drittstaaten irgendeine – wenn es so ausgedrückt werden darf – Absicht bestand, die Union zu verlassen. Die rechtlich relevante Absicht war es vielmehr, in der Union zu verbleiben, um einen anderen Mitgliedstaat zu erreichen.

63. Zweitens kann auch unter der Annahme, dass Frau Abdullahi die Union mit der Ausreise aus Griechenland „verließ“, nicht außer Betracht bleiben, dass die Wirkungen des Verlassens des Unionsgebiets nicht unverzüglich eintreten. Dies lässt sich meines Erachtens dem Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 entnehmen, wonach die Verpflichtungen des nach der Verordnung zuständigen Mitgliedstaats „erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat“. Diese Bestimmung bezieht sich natürlich auf die Verpflichtungen des zuständigen Mitgliedstaats, nachdem dieser einmal nach den Kriterien der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt worden ist. Sie muss jedoch auch dahin verstanden werden, dass sie zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem die zuständige Behörde diese Kriterien anwendet, so dass von dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats diejenigen Mitgliedstaaten auszuschließen sind, hinsichtlich deren grundsätzlich feststeht, dass sie der Asylbewerber für einen Zeitraum von drei Monaten verlassen hat.

64. Worauf es hier jedenfalls vor allem ankommt, ist die Tatsache, dass nach der Verordnung Nr. 343/2003 das physische Verlassen des Gebiets nicht automatisch die Auflösung der rechtlichen Verbindung mit der Union einschließt, so dass die Rechte und Erwartungen, die der Asylbewerber bei der Einreise in die Union möglicherweise besaß, drei Monate lang nach seiner Ausreise aufrechterhalten bleiben und wieder reaktiviert werden, wenn er vor Ablauf dieser Frist erneut in die Union einreist. Im hier zu beurteilenden Fall verließ die Asylbewerberin die Union nach ihrer Einreise in Griechenland nicht für mehr als einen Monat, so dass die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats wirksam fortbestand, als Frau Abdullahi nach Ungarn einreiste.

65. Ich bin daher der Auffassung, dass die Wirkungen einer ersten Einreise in die Union bis zum Ablauf von drei Monaten seit Verlassen des Gebiets der Mitgliedstaaten fortbestehen und dass daher unter den Umständen des vorliegenden Falles die Zuständigkeit bei dem „ersten Mitgliedstaat“ liegt.

C – Zur dritten Frage

66. Mit der dritten Frage, in der auf das Urteil N. S. u. a. Bezug genommen wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, inwieweit die Lage „eines Mitgliedstaats, dessen Asylsystem festgestellte systemische Mängel aufweist“, dazu verpflichtet, ihn als den zuständigen Mitgliedstaat auszuschließen, obgleich er dies nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung wäre.

67. Ungeachtet einer gewissen Auslegungsschwierigkeit, die der Wortlaut der dritten Frage aufwirft, ist meines Erachtens angesichts der Erläuterungen des vorlegenden Gerichts in seinem Vorlagebeschluss davon auszugehen, dass diese Frage dahin geht, ob ein Mitgliedstaat, der diese Mängel aufweist, ohne Weiteres und prinzipiell als möglicher zuständiger Mitgliedstaat auszuschließen ist oder ob vielmehr, wenn er in Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 als der zuständige Mitgliedstaat ermittelt wurde, die Prüfung fortzuführen ist, um anhand der weiteren Kriterien der Verordnung einen anderen zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen.

68. Im Kern geht die Frage deshalb dahin, wie zu verfahren ist, wenn tatsächlich nach der sich aus dem Urteil N. S. u. a. ergebenden Rechtsprechung die Bestimmung eines Mitgliedstaats als für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständiger Staat auszuschließen ist.

69. Die Frage ist also, wie in Anwendung der Kriterien der Verordnung Nr. 343/2003 nach der sich aus dem Urteil N. S. u. a. ergebenden Rechtsprechung ein anderer zuständiger Mitgliedstaat zu bestimmen ist, wenn derjenige, der dies zu sein hätte, einmal ausgeschlossen wurde.

70. Laut der Randnr. 107 des Urteils N. S. u. a. hat in einem Fall, in dem „die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich [ist], … der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann“.

71. Das Wort „weitere“ ist hier sinntragend, da Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 vorschreibt, dass „[d]ie Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats … in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung [finden]“.

72. Wenn die österreichischen Behörden als das primär anwendbare Kriterium das in Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegte (der illegalen Einreise in das Unionsgebiet) erachteten, so deshalb, weil sie die Anwendung der vorrangigen Kriterien (Minderjährigkeit, Existenz von Familienangehörigen, Besitz eines Aufenthaltstitels) ausgeschlossen hatten; die Unmöglichkeit, dieses Kriterium heranzuziehen, verpflichtet sie zur Prüfung der Möglichkeit, eines der in der Rangfolge der Verordnung nachfolgenden Kriterien anzuwenden, und schlussendlich zur Heranziehung der Auffangregelung des Art. 13, die den Mitgliedstaat für zuständig erklärt, in dem der Asylantrag gestellt wurde.

73. Grundsätzlich erschöpft sich jedes der Kriterien mit seiner Anwendung, denn ihnen allen ist gemeinsam, dass mit jedem von ihnen ein einziger zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. Darum ergibt es keinen Sinn, erneut das Kriterium anzuwenden, das zu der Bestimmung des Mitgliedstaats führt, an den der Asylbewerber letztlich nicht überstellt werden darf, weil diese Anwendung wiederum unausweichlich zu dem ausgeschlossenen Mitgliedstaat führte. Ebenso erschiene die Anwendung eines der vorangegangenen Kriterien undenkbar, da sie bereits mit der Feststellung außer Anwendung gelassen wurden, dass das anzuwendende Kriterium eines der nachrangigen sei.

74. Im vorliegenden Fall verblieben nach dieser Sachlogik zur Anwendung nur die Kriterien des Art. 11 (Einreise in einen Mitgliedstaat, in dem für Frau Abdullahi kein Visumzwang bestand) und des Art. 12 (Stellung eines Asylantrags im internationalen Transitbereich eines Flughafens eines Mitgliedstaats). Ist keines dieser Kriterien anwendbar, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, verbliebe allein die Auffangregelung des Art. 13, durch die die Zuständigkeit der österreichischen Behörden begründet würde. Alles dies gilt selbstverständlich unbeschadet der Souveränitätsklausel und der humanitären Regelung in Art. 3 Abs. 2 bzw. Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003.

VI – Ergebnis

75. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

  • 1. Der Asylbewerber kann sich des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs bedienen, um entweder eine Anwendung der Kriterien der Verordnung anzufechten, die zu der Bestimmung eines Mitgliedstaats führte, der nicht in der Lage ist, dem Asylbewerber eine mit der Wahrung der Grundrechte vereinbare Behandlung zu gewährleisten, oder um die Nichtanwendung von Bestimmungskriterien anzufechten, die auf dem Asylbewerber in der Verordnung speziell zuerkannten subjektiven Rechten beruhen.

Hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehene Rechtsbehelf eine auf jedweden Verstoß gegen die Verordnung gestützte Anfechtung erlaubt:

  • 2. Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ist dahin auszulegen, dass unter den Umständen des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Falls für die Prüfung des Asylantrags der Mitgliedstaat zuständig ist, in den die erste illegale Einreise stattfand.
  • 3. Die von dem nationalen Gericht getroffene Feststellung, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, bedeutet nicht den Ausschluss dieses Mitgliedstaats vom System der Verordnung Nr. 343/2003 in der Weise, dass dieser Mitgliedstaat „a priori“ vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen wäre. Diese Feststellung bewirkt nur den Ausschluss der Zuständigkeit, die diesem Mitgliedstaat in Anwendung der in der Verordnung festgelegten Kriterien zukommen könnte, mit der Folge, dass mittels der Anwendung der nach dem ursprünglich angewandten Kriterium weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als zuständig zu bestimmen ist.