Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed vom 8. September 2005 (Rechtssache C‑344/04): Unterschied zwischen den Versionen

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(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice, Queen’s Bench Division)
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(Luftbeförderung – [[EG-Verordnung 261/2004 | Verordnung (EG) Nr. 261/2004]] – Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste bei Nichtbeförderung und Annullierung oder großer Verspätung des [[Flug | Fluges]] – Artikel 5, 6 und 7 der Verordnung – Gültigkeit – Auslegung des Artikels 234 EG)


== I –    Einleitung ==
== I –    Einleitung ==

Version vom 4. Juni 2014, 17:24 Uhr

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

L. A. GEELHOED

vom 8. September 2005

Rechtssache C‑344/04

The Queen

International Air Transport Association

European Low Fares Airline Association

Hapag-Lloyd Express GmbH

gegen

Department of Transport

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice, Queen’s Bench Division)

(Luftbeförderung – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste bei Nichtbeförderung und Annullierung oder großer Verspätung des Fluges – Artikel 5, 6 und 7 der Verordnung – Gültigkeit – Auslegung des Artikels 234 EG)

I – Einleitung

1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen betrifft erstens die Gültigkeit der Artikel 5, 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 und zweitens die Auslegung von Artikel 234 EG.

II – Rechtlicher Rahmen

Das Übereinkommen von Montreal

2. Das Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal) wurde von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet. Es wurde mit Beschluss des Rates vom 5. April 2001 genehmigt. Es trat, soweit es die Europäische Gemeinschaft betrifft, am 28. Juni 2004 in Kraft.

3. Artikel 19 – Verspätung – des Übereinkommens von Montreal bestimmt:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht. Er haftet jedoch nicht für den Verspätungsschaden, wenn er nachweist, dass er und seine Leute alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung des Schadens getroffen haben oder dass es ihm oder ihnen nicht möglich war, solche Maßnahmen zu ergreifen.“

4. Gemäß Artikel 22 Absatz 1 des Übereinkommens von Montreal haftet der Luftfrachtführer für Verspätungsschäden im Sinne des Artikels 19 bei der Beförderung von Personen nur bis zu einem Betrag von 4 150 Sonderziehungsrechten je Reisenden. Artikel 22 Absatz 5 bestimmt, dass die Begrenzung nicht gilt, wenn der Schaden durch eine Handlung oder Unterlassung des Luftfrachtführers verursacht worden ist, die entweder in der Absicht, Schaden herbeizuführen, oder leichtfertig und in dem Bewusstsein begangen wurde, dass wahrscheinlich ein Schaden eintreten wird.

5. Artikel 29 – Grundsätze für Ansprüche – lautet:

„Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadensersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadensersatz ausgeschlossen.“

Verordnung Nr. 889/2002

6. Artikel 1 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen tritt an die Stelle von Artikel 3 der Verordnung Nr. 2027/97 und lautet:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

7. Artikel 1 Absatz 10 der Verordnung Nr. 889/2002 ergänzt die Verordnung Nr. 2027/97 um einen Anhang, der u. a. unter der Überschrift „Verspätungen bei der Beförderung von Fluggästen“ die folgenden Vorschriften enthält:

„Das Luftfahrtunternehmen haftet für Schäden durch Verspätung bei der Beförderung von Fluggästen, es sei denn, dass es alle zumutbaren Maßnahmen zur Schadensvermeidung ergriffen hat oder die Ergreifung dieser Maßnahmen unmöglich war. Die Haftung für Verspätungsschäden bei der Beförderung von Fluggästen ist auf 4 150 SZR (gerundeter Betrag in Landeswährung) begrenzt.“

Verordnung Nr. 261/2004

8. Artikel 5 – Annullierung – der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

  • „(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen
    • a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,
    • b) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und
    • c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,
      • i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder
      • ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder
      • iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.
  • (2) Wenn die Fluggäste über die Annullierung unterrichtet werden, erhalten sie Angaben zu einer möglichen anderweitigen Beförderung.
  • (3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
  • (4) Die Beweislast dafür, ob und wann der Fluggast über die Annullierung des Fluges unterrichtet wurde, trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen.

9. Artikel 6 – Verspätung – der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

  • „(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug
    • a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder
    • b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km um drei Stunden oder mehr oder
    • c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen
      • i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,
      • ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,
      • iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.
  • (2) Auf jeden Fall müssen die Unterstützungsleistungen innerhalb der vorstehend für die jeweilige Entfernungskategorie vorgesehenen Fristen angeboten werden.“

10. Artikel 7 – Ausgleichsleistungen – der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

  • „(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
    • a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,
    • b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,
    • c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.

  • (2) Wird Fluggästen gemäß Artikel 8 eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten, dessen Ankunftszeit
    • a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger nicht später als zwei Stunden oder
    • b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 und 3500 km nicht später als drei Stunden oder
    • c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen nicht später als vier Stunden

nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 um 50 % kürzen.

  • (3) Die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 erfolgen durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen.
  • (4) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Entfernungen werden nach der Methode der Großkreisentfernung ermittelt.“

11. Artikel 8 der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

  • „(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen
    • a) der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit
      • einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühest möglichen Zeitpunkt,
    • b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühest möglichen Zeitpunkt oder
    • c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.
  • (2) Absatz 1 Buchstabe a) gilt auch für Fluggäste, deren Flüge Bestandteil einer Pauschalreise sind, mit Ausnahme des Anspruchs auf Erstattung, sofern dieser sich aus der Richtlinie 90/314/EWG ergibt.
  • (3) Befinden sich an einem Ort, in einer Stadt oder Region mehrere Flughäfen und bietet ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einem Fluggast einen Flug zu einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen an, so trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen die Kosten für die Beförderung des Fluggastes von dem anderen Flughafen entweder zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem Fluggast vereinbarten Zielort.“

12. Artikel 9 der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

  • „(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so sind Fluggästen folgende Leistungen unentgeltlich anzubieten:
    • a) Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,
    • b) Hotelunterbringung, falls
  • ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder
  • ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,
    • c) Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel oder Sonstiges).
  • (2) Außerdem wird den Fluggästen angeboten, unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe oder Telefaxe oder E-Mails zu versenden.
  • (3) Bei der Anwendung dieses Artikels hat das ausführende Luftfahrtunternehmen besonders auf die Bedürfnisse von Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie auf die Bedürfnisse von Kindern ohne Begleitung zu achten.“

III – Sachverhalt, Verfahren und Vorabentscheidungsfragen

13. Die International Air Transport Association (Internationaler Luftverkehrsverband, im Folgenden: IATA), die die Interessen von 270 Fluggesellschaften aus 130 Ländern vertritt, die weltweit annähernd 98 % der internationalen Linienfluggäste befördern, und die European Low Fares Airline Association (Europäischer Verband der Niedrigtarif-Fluggesellschaften, im Folgenden: ELFAA), eine im Januar 2004 gegründete Vereinigung, die die Interessen von zehn europäischen Niedrigtarif-Fluggesellschaften aus neun EU-Staaten, die über 50 Millionen Fluggäste befördern, vertritt (im Folgenden insgesamt: Klägerinnen) haben beim High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (United Kingdom) (im Folgenden: High Court), zwei Klagen gegen das Department for Transport der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland wegen der Durchführung der Verordnung Nr. 261/2004 erhoben.

14. Der High Court war der Auffassung, dass das Vorbringen der Klägerinnen nachvollziehbar und nicht unbegründet sei; er hat beschlossen, dem Gerichtshof sieben Fragen, die die Klägerinnen bezüglich der Gültigkeit der Verordnung Nr. 261/2004 aufgeworfen hatten, zur Vorabentscheidung vorzulegen. Da das Department for Transport bezweifelte, dass die Vorlage von sechs der Fragen notwendig sei, da die Fragen keinen wirklichen Zweifel an der Gültigkeit dieser Verordnung aufkommen ließen, wollte der High Court wissen, welche Voraussetzungen vorliegen oder welche Schwelle überschritten sein müsse, ehe die Frage nach der Gültighkeit eines Gemeinschaftsaktes dem Gerichtshof gemäß Artikel 234 Absatz 2 EG vorgelegt werden müsse. Demgemäß hat er dem Gerichtshof die folgenden Fragen vorgelegt:

  • 1. Ist Artikel 6 der Verordnung Nr. 261/2004 ungültig, weil er gegen das Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, bekannt als das Übereinkommen von Montreal von 1999, und insbesondere gegen dessen Artikel 19, 22 und 29, verstößt, und wird dadurch (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt beeinträchtigt?
  • 2. Ist die Änderung des Artikels 5 der Verordnung während der Beratung des Entwurfstextes im Vermittlungsausschuss in einer Weise vorgenommen worden, die mit den Verfahrenserfordernissen nach Artikel 251 EG unvereinbar ist, und, wenn ja, ist Artikel 5 der Verordnung ungültig, und, wenn ja, beeinträchtigt diese Ungültigkeit (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt?
  • 3. Sind die Artikel 5 und 6 der Verordnung Nr. 261/2004 (ganz oder teilweise) ungültig, weil sie unvereinbar sind mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, und, wenn ja, beeinträchtigt diese Ungültigkeit (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt?
  • 4. Sind die Artikel 5 und 6 der Verordnung Nr. 261/2004 (ganz oder teilweise) ungültig, weil sie nicht oder nicht angemessen begründet sind, und, wenn ja, beeinträchtigt diese Ungültigkeit (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt?
  • 5. Sind die Artikel 5 und 6 der Verordnung Nr. 261/2004 (ganz oder teilweise) ungültig, weil sie unvereinbar sind mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der für jede Gemeinschaftsmaßnahme gilt, und, wenn ja, beeinträchtigt diese Ungültigkeit (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt?
  • 6. Sind die Artikel 5 und 6 der Verordnung Nr. 261/2004 (ganz oder teilweise) ungültig, weil sie insbesondere die Mitglieder der zweiten Klägerin in einer Weise diskriminieren, die willkürlich und objektiv nicht gerechtfertigt ist, und, wenn ja, beeinträchtigt diese Ungültigkeit (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt?
  • 7. Ist Artikel 7 der Verordnung (ganz oder teilweise) nichtig oder ungültig, weil die Auferlegung einer pauschalen Haftung im Fall der Annullierung von Flügen aus Gründen, die keine außergewöhnlichen Umstände darstellen, diskriminierend ist, nicht die Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfüllt, die für jede Gemeinschaftsmaßnahme gelten, oder nicht angemessen begründet ist, und, wenn ja, beeinträchtigt diese Ungültigkeit (in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren) die Gültigkeit der Verordnung insgesamt?
  • 8. Wenn ein nationales Gericht eine Klage zugelassen hat, die Fragen nach der Gültigkeit von Vorschriften eines Gemeinschaftsrechtsakts aufwirft und die es für vertretbar und für nicht unbegründet hält, gibt es dann gemeinschaftsrechtliche Grundsätze im Zusammenhang mit einem Kriterium oder einer Schwelle, die das nationale Gericht anzuwenden hat, wenn es nach Artikel 234 Absatz 2 EG entscheidet, ob es diese Gültigkeitsfragen dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorlegt?

15. Der Beschluss des High Court ist beim Gerichtshof am 12. August 2004 eingegangen. Schriftliche Erklärungen haben die Klägerinnen, das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und das Vereinigte Königreich eingereicht. In der Sitzung vom 7. Juni 2005 wurde mündlich verhandelt.

IV – Erörterung

16. Bei diesem Ersuchen um Vorabentscheidung betreffen sieben der acht Fragen die Gültigkeit der Verordnung Nr. 261/2004.

17. Die Verordnung Nr. 261/2004 regelt Nichtbeförderung (Artikel 4), Annullierung (Artikel 5) und Verspätung (Artikel 6).

18. Bei jedem dieser Sachverhalte treffen den Luftfrachtführer bestimmte Verpflichtungen:

  • im Fall der Nichtbeförderung: Ausgleich (Artikel 7), Erstattung oder anderweitige Beförderung (Artikel 8) und Betreuungsleistungen (Artikel 9).
  • im Fall der Annullierung: Erstattung oder anderweitige Beförderung (Artikel 8) und Betreuungsleistungen in Form von Mahlzeiten usw. (Artikel 9), aber kein Ausgleichsanspruch (Artikel 7), wenn die Fluggäste rechtzeitig unterrichtet wurden oder der Luftfrachtführer nachweisen kann, dass die Annullierung durch außergewöhnliche Umstände bedingt war.
  • im Fall der Verspätung: nur Betreuungsleistungen gemäß Artikel 9, ausgenommen Verspätungen von fünf Stunden oder mehr. In diesem Fall hat der Fluggast ebenfalls Anspruch auf Erstattung gemäß Artikel 8.

19. Zusätzlich sind Luftfrachtführer verpflichtet, Fluggäste über ihre Rechte zu informieren, so dass sie diese Rechte wirksam ausüben können. Zu dieser Information gehören die Einzelheiten der Kontaktnahme mit der Stelle, die mit der Aufgabe der Sicherstellung und Überwachung der Einhaltung der Verordnung durch die Luftfrachtführer betraut ist.

20. Außerdem dürfen Verpflichtungen gegenüber Fluggästen nicht – insbesondere nicht durch abweichende oder restriktive Bestimmungen im Beförderungsvertrag – eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.

21. Die Rügen der Klägerinnen betreffen nicht die Rechtmäßigkeit des Artikels 4 und die Pflicht der Luftfrachtführer, den Fluggästen bei Nichtbeförderung Ausgleich oder Betreuungsleistungen zu gewähren, sondern die in den Artikeln 5 und 6 geregelten Pflichten zu Ausgleich, Erstattung oder anderweitiger Beförderung sowie Unterstützungsleistungen für Fluggäste bei Annullierung und Verspätung.

22. Die Gründe für die Rüge sind in Kürze die folgenden:

  • Unvereinbarkeit des Artikels 6 mit dem Übereinkommen vom Montreal;
  • Verfahrensverstöße (die Ergänzung des Artikels 5 der Verordnung habe gegen das Verfahren gemäß Artikel 251 EG verstoßen);
  • fehlende Rechtssicherheit und unzureichende Begründung;
  • Verstoß gegen das Grundrecht der Verhältnismäßigkeit;
  • Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot;
  • Ausgleichszahlung in Höhe eines festen Betrages sei unverhältnismäßig, diskriminierend und nicht hinreichend begründet.

Erste Frage (Unvereinbarkeit mit dem Übereinkommen von Montreal)

23. Mit seiner ersten Frage will das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 6 – Verspätung – der Verordnung ungültig sei, weil er mit den Artikeln 19, 22 und 29 des Übereinkommens von Montreal unvereinbar sei.

24. Bei Verspätung von mindestens zwei Stunden ist der Luftfrachtführer gemäß Artikel 6 der Verordnung verpflichtet, Betreuung gemäß Artikel 9 zu leisten. Bei einer Verspätung von mindestens fünf Stunden hat der Fluggast auch Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung gemäß Artikel 8. Artikel 6 erlaubt den Luftfrachtführern keine Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“.

25. Die Klägerinnen machen geltend, dass Artikel 6 der Verordnung mangels Möglichkeit einer Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“ mit den Artikeln 19, 22 Absatz 1 und 29 des Übereinkommens von Montreal unvereinbar und daher ungültig sei.

26. Eine solche Berufungsmöglichkeit sei im Übereinkommen von Montreal vorgesehen. Aus Artikel 29 ergebe sich, dass bei der Beförderung von Fluggästen Anspruch auf Schadensersatz gleich welchen Rechtsgrunds nur unter den in diesem Übereinkommen vorgesehenen Voraussetzungen geltend gemacht werden könne. Somit müsse jede Vorschrift über Schadensersatz bei verspäteter Beförderung von Fluggästen den Artikeln 19 und 22 des Übereinkommens entsprechen.

27. Das Übereinkommen von Montreal sei für die Gemeinschaft verbindlich und gehe Artikel 6 der Verordnung vor; Artikel 19, 22 Absatz 1 und 29 des Übereinkommens von Montreal hätten unmittelbare Wirkung.

28. Das Parlament, der Rat, die Kommission und die Regierung des Vereinigten Königreichs stehen auf dem Standpunkt, dass kein Widerspruch zwischen der Verordnung und dem Übereinkommen bestehe, weil sich diese Maßnahmen auf zwei verschiedene Systeme mit unterschiedlichen Zielen bezögen. Die Pflicht, Unterstützung und Betreuung zu leisten, stelle keinen Schadensausgleich im Sinne von Artikel 19 des Übereinkommens von Montreal dar.

29. Die den Luftfrachtführern in Artikel 6 der Verordnung auferlegten Pflichten seien ihrem Wesen nach öffentlich-rechtlich. Solche Pflichten hätten nichts mit einer gerichtlichen Schadensersatzklage zu tun. Sie beträfen lediglich die Leistung von Betreuung zur Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Fluggäste an Ort und Stelle im Falle der Verspätung.

30. In der Sitzung haben die Klägerinnen zu den Erklärungen des Parlaments, des Rates und der Kommission weiter Stellung genommen. Das Vorbringen der Organe der Gemeinschaft beruhe auf einer restriktiven Auslegung des Begriffes „Schaden durch Verspätung“ im Sinne des Artikels 19 des Übereinkommens von Montreal. Es treffe auch nicht zu, dass das Übereinkommen bestimmte Regeln nur teilweise harmonisiere.

31. Die restriktive Auslegung mißachte die Interessen der Verbraucher, die Rechtsprechung des Gerichtshofes und die Urteile anderer Gerichte (die auf der Grundlage von Artkel 19 des Übereinkommens von Montreal Fluggästen Ausgleich für Hotelkosten und ähnliches gewährten). Zweitens habe sich die Gemeinschaft infolge dieser restriktiven Auslegung für befugt gehalten, die Lücke zu füllen, obwohl dies zu weiterer Verwirrung führe, weil sowohl die Verordnung Nr. 2027/97 als auch die Verordnung Nr. 261/2004 einheitliche Regeln hätten aufstellen wollen und beide die Haftung des Luftfrachtführers auf Schadensersatz wegen verspäteter Flüge beträfen. Diese beiden Verordnungen seien nicht miteinander in Einklang zu bringen. Das Wort „Ausgleich“ werde in beiden Verordnungen offensichtlich in unterschiedlicher Bedeutung verwendet: Ausgleich für Schaden (Verordnung Nr. 2027/97) und Ausgleich für fehlenden Schaden (Verordnung Nr. 261/2004). Diese Unterscheidung, die die Organe träfen, sei recht verwirrend. Sie zerstöre die Einfachheit und Klarheit im Sinne der Begründungserwägung 12 der Verordnung 2027/97, geändert durch Verordnung Nr. 889/2002, sowie das ausgewogene System des Übereinkommens von Montreal und verstoße außerdem eindeutig gegen dieses Übereinkommen. Ausgleich für fehlenden Schaden sei ein anderer Ausdruck für nicht kompensatorischen Schadensersatz. Wenn dem so sei, stehe Artikel 6 der Verordnung Nr. 261/2004 im Widerspruch zu Artikel 29 des Übereinkommens von Montreal und Artikel 3 der Verordnung Nr. 2027/97 in der geänderten Fassung, der den Luftfrachtführer von jeglicher Pflicht zu solchen Zahlungen befreie.

Würdigung

32. Die Gemeinschaft ist Vertragspartei des Übereinkommens von Montreal und zweifelsfrei an dieses Übereinkommen gebunden. Das Übereinkommen wurde auf der Grundlage von Artikel 300 EG unterzeichnet und abgeschlossen. Abkommen, die auf der Grundlage von Artikel 300 EG abgeschlossen wurden, sind für die Organe und die Mitgliedstaaten verbindlich und, sobald sie in Kraft getreten sind, Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung. Es ändert nichts an den völkerrechtlichen Pflichten der Gemeinschaftsorgane, dass die Verordnung vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens von Montreal für die Europäische Gemeinschaft erlassen wurde. Das Übereinkommen von Montreal ist ein völkerrechtlicher Vertrag, als solcher für die Vertragsparteien verbindlich und nach Treu und Glauben einzuhalten. Die Gemeinschaftsorgane durften daher, auch wenn die Gemeinschaft ihre Ratifikationsurkunde noch nicht hinterlegt hatte, nicht gegen internationale Verträge verstoßen. Die Organe waren vom Tag der Unterzeichnung des Übereinkommens (9. Dezember 1999) an verpflichtet, alles zu unterlassen, was Ziel und Zweck des Übereinkommens gefährden würde. Mithin bestand eine Pflicht, keine Gemeinschaftsvorschriften zu erlassen, die mit dem Übereinkommen von Montreal nicht vereinbar wären.

33. Damit stellt sich die Frage, ob Anwendungsbereich und Gegenstand des Übereinkommens mit der strittigen Verordnung (oder deren strittigen Bestimmungen) Nr. 261/2004 übereinstimmen oder ob ein Widerspruch zwischen ihnen besteht.

34. Zweck des Übereinkommens von Montreal wie seines Vorgängers (Warschauer Übereinkommen von 1929 in der geänderten Fassung) war es, bestimmte einheitliche Regeln über die Haftung im internationalen Luftfrachtverkehr zu schaffen.

35. Die in der vorliegenden Rechtssache maßgebenden Bestimmungen finden sich in Kapitel III des Übereinkommens von Montreal und befassen sich mit der Haftung des Luftfrachtführers und dem Umfang des Schadensausgleichs. Artikel 17 regelt den Schaden bei Tod und Körperverletzung von Reisenden sowie Beschädigung von Reisegepäck. Artikel 18 betrifft die Beschädigung von Gütern. Artikel 19 behandelt den Schaden, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht und für den der Luftfrachtführer haftet. Gemäß Artikel 19 gilt eine Haftungsvermutung zu Lasten des Luftfrachtführers, der indessen die Vermutung widerlegen kann, wenn er nachweist, dass er und seine Leute alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung des Schadens getroffen haben oder dass es ihm oder ihnen nicht möglich war, solche Maßnahmen zu ergreifen.

36. Die folgenden Artikel (und hier zunächst Artikel 20 bis 28) behandeln verschiedene Fragen, u. a. Haftungsbeschränkungen wie die Beschränkung der Haftung des Luftfrachtführers auf den Betrag von 4 150 Sonderziehungsrechten je Reisenden bei verspäteter Beförderung von Personen.

37. Artikel 29 bestimmt dann, dass ein Anspruch auf Schadensersatz nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden kann, die in dem Übereinkommen vorgesehen sind. Artikel 33 legt fest, welche Gerichte zuständig sind und dass sich das Verfahren nach dem Recht des angerufenen Gerichtes richtet. Außerdem legt Artikel 35 eine Ausschlussfrist von zwei Jahren für die Erhebung der Klage fest.

38. Die maßgebenden Vorschriften des Übereinkommens sind, soweit es die Gemeinschaft betrifft, in die Verordnung Nr. 2027/97 mit deren Änderung durch die Verordnung Nr. 889/2002 eingefügt worden. Die geänderte Fassung gilt seit dem 28. Juni 2004, dem Zeitpunkt des Inkraftretens des Übereinkommens von Montreal für die Gemeinschaft.

39. Damit hat die Verordnung Nr. 2027/97 in der geänderten Fassung ihren Geltungsbereich um die zivilrechtliche Haftung der Luftfrachtführer für Schäden infolge Verspätung erweitert. Dies spiegelt sich z. B. sowohl in Artikel 3 Absatz 1 dieser Verordnung als auch in deren Anhang wider, der de facto ein Informationshinweis ist, den Luftfrachtführer gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 2027/97 zu geben haben und der die Haftungsregeln zusammenfasst, die Luftfrachtführer der Gemeinschaft nach Maßgabe der Gemeinschaftsgesetzgebung und des Übereinkommens von Montreal anwenden.

40. Zusätzlich zur zivilrechtlichen Haftung der Luftfrachtführer für Schäden infolge Verspätung nach dem Übereinkommen von Montreal und dem Gemeinschaftsrecht enthält die Verordnung Nr. 261/2004, die hier im Streit ist, besondere Pflichten für den Luftfrachtführer bei Nichtbeförderung, Annullierung und Verspätung.

41. Was die Verspätung anlangt, so hat der Luftfrachtführer Betreuung (Mahlzeiten, Hotelunterbringung und ähnliches) und Unterstützung während der Verspätung zu leisten. Eine Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“ ist nicht vorgesehen. Deshalb geht es bei der Auseinandersetzung nicht nur um Anwendungsbereich und Gegenstand des Übereinkommens von Montreal, sondern auch um die Bedeutung von „Schaden infolge Verspätung“ (Letzteres haben die Klägerinnen ins Feld geführt), weil nämlich das Übereinkommen von Montreal eine Berufung auf solche Umstände zulässt, die strittige Verordnung hingegen nicht.

42. Meines Erachtens ergänzen sich das Übereinkommen von Montreal und die Verordnung, ohne sich zu widersprechen, wie ich im Folgenden darlegen werde.

43. Zunächst steht außer Zweifel, dass das Übereinkommen von Montreal bestimmte Regeln des grenzüberschreitenden Luftfrachtverkehrs wie die zivilrechtliche Haftung von Luftfrachtführern bei Schäden infolge Verspätung und die anschließenden Schadensersatzklagen einzelner Reisender bei den Gerichten harmonisiert. Diese Harmonisierung erfasst jedoch nicht alle Aspekte einer Verspätung.

44. Das Übereinkommen von Montreal regelt, worauf Kommisison und Rat hingewiesen haben, die Arten von Ansprüchen, die bei Schäden infolge Verspätung bei den Gerichten eingeklagt werden können. Artikel 29 des Übereinkommens spricht hier von jedem „Anspruch auf Schadensersatz“, aber nicht von einem „Anspruch bei Verspätung“.

45. Das Übereinkommen von Montreal ist daher, soweit es Schadensersatzansprüche wegen Verspätung anlangt, erschöpfend, schließt aber Maßnahmen nicht aus, die keinen „Schadensersatzanspruch“ darstellen. Das Übereinkommen von Montreal schließt z. B. Maßnahmen nicht aus, die den Luftfrachtführern bestimmte Mindestdienstleistungen vorschreiben, die sie während der Verspätung zu erbringen haben.

46. Zweitens ist klar, dass Artikel 6 der Verordnung keine zivilrechtliche Haftung oder Schadensersatzansprüche behandelt. Ein Schadensersatzanspruch setzt, wie Parlament, Rat und Kommission ebenfalls bemerkt haben, Überlegungen darüber voraus, ob ein Schaden entstanden ist, ob ein Kausalzusammenhang zwischen Verspätung und Schaden besteht, wie hoch der Schaden ist und ob der Luftfrachtführer sich gegen den Anspruch schützen kann. Diese Überlegungen sind relevant, wenn ein Anspruch (auf Schadensersatz) bei einem der (in Artikel 33 bestimmten) zuständigen Gerichte eingeklagt wird.

47. Diese Überlegungen sind im Kontext des Artikels 6 der Verordnung nicht relevant. Ziel des Artikels 6 ist es, Fluggäste dadurch zu schützen, dass Luftfrachtführer nicht beförderte Reisende ohne Rücksicht darauf zu betreuen und zu unterstützen haben, ob ein Schaden entstanden ist. Ein Schaden braucht nicht nachgewiesen zu werden, und die Frage der Schuld des Luftfrachtführers ist hierfür ohne Bedeutung. Folglich bedarf er auch keines Schutzes.

48. Die Pflicht zur Erbringung von Mindestdienstleistungen während der Verspätung und damit der den Reisenden gewährte Schutz sind öffentlich-rechtlicher Natur.

49. Übrigens versteht sich von selbst, dass ein Fluggast, der infolge der Verspätung einen Schaden erleidet, diesen Schadensersatzanspruch gemäß Artikel 19 des Übereinkommens von Montreal vor einem der in Artikel 33 des Übereinkommens genannten zuständigen Gerichte geltend machen kann. Artikel 12 der Verordnung hält solche Ansprüche aufrecht.

50. Für mich ist klar, dass die Pflichten der Luftfrachtführer nach Artikel 6 nicht in Widerspruch zum Übereinkommen von Montreal stehen. Das Übereinkommen von Montreal und die Verordnung Nr. 2027/97 einerseits und die Verordnung Nr. 261/2004 andererseits sind von ganz unterschiedlicher Natur. Wie wir bereits sahen, behandelt das Übereinkommen von Montreal das Recht eines einzelnen Fluggastes, wegen eines – dem internationalen Privatrecht unterliegenden – Anspruchs auf Ersatz von Schaden, der ihm durch eine Verspätung entstanden ist, Klage bei Gericht zu erheben, während Artikel 6 der Verordnung bestimmte Pflichten für den Luftfrachtführer begründen will und damit zugleich ein Recht für alle Fluggäste schafft, während der Verspätung unmittelbar Betreuung und Unterstützung zu erhalten.

51. Für mich liegt auf der Hand, dass eine solche gesetzliche Verpflichtung nicht dasselbe ist wie die zivilrechtliche Haftung für Schäden infolge Verspätung (im Sinne eines Verlustes als Ergebnis der Verspätung) nach dem Übereinkommen von Montreal.

52. Außerdem wird, wie das Parlament ebenfalls bemerkt hat, die öffentlich-rechtliche Natur der den Luftfrachtführern in der Verordnung Nr. 261/2004 auferlegten Pflichten weiter dadurch unterstrichen, dass diese auf andere Weise durchgesetzt werden. Nach der Verordnung muss jeder Mitgliedstaat eine Stelle benennen, die für die Durchsetzung der Verordnung zuständig ist und die gegebenenfalls „die notwendigen Maßnahmen [ergreift], um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden“. Erfüllt ein Luftfrachtführer seine Pflichten nach der Verordnung nicht und verstößt damit gegen die Rechte der Fluggäste, können diese bei dieser Stelle Beschwerde erheben. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten zusätzlich für wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen Sorge tragen.

53. Zusätzlich kann der Fluggast bei Gericht Klage erheben, wenn der Luftfrachtführer seine öffentlich-rechtlichen Pflichten nicht erfüllt. Eine solche Klage soll augenscheinlich Luftfrachtführer dazu zwingen, ihre Pflichten zu erfüllen, unabhängig davon, ob ein Fluggast aufgrund dieser Nichterfüllung einen Schaden erleidet. Mit anderen Worten: Das Ziel der Klage und die Pflichten eines Luftfrachtführers ist identisch.

Zweite Frage (Artikel 251 EG)

54. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, ob a) Artikel 5 – Annullierung – ungültig ist, weil er durch den Vermittlungsausschuss entgegen Artikel 251 EG geändert wurde, und falls ja, ob b) diese Ungültigkeit in Verbindung mit anderen relevanten Faktoren die Gültigkeit der Verordnung insgesamt beeinträchtigt.

55. Nach Auffassung der Klägerinnen ist die Streichung der Möglichkeit des Luftfrachtführers, sich auf „außergewöhnliche Umstände“ zu berufen, durch den Vermittlungsausschuss in Bezug auf Betreuungsansprüche nach Artikel 9 bei Annulierung rechtswidrig, weil insoweit keine Meinungsverschiedenheit zwischen dem gemeinsamen Standpunkt des Rates und der zweiten Lesung durch das Parlament bestanden habe.

56. Der Vermittlungsausschuss könne eine Vorschrift einer vorgeschlagenen Maßnahme nur dann abändern, wenn das Parlament und der Rat zuvor bei der zweiten Lesung hierüber uneins gewesen seien. Der klare Wortlaut des Artikels 251 Absatz 4 EG bestimme, dass der Vermittlungsausschuss sich mit dem gemeinsamen Standpunkt auf der Grundlage der vom Parlament vorgeschlagenen Abänderungen zu befassen habe. Eine abweichende Auslegung liefe auf eine stillschweigende Ermächtigung des Ausschusses hinaus, die das institutionelle Gleichgewicht im Gesetzgebungsverfahren untergrübe und ein größeres demokratisches Defizit herbeiführte als das, das mit Artikel 251 habe behoben werden sollen.

57. Wenn der Vermittlungsausschuss dem gemeinsamen Standpunkt des Rates neue Abänderungen hinzufügen könnte, könnten Mitglieder des Parlaments, die dem Vermittlungsausschuss angehörten, den Willen der Mehrheit des Parlamernts faktisch umgehen. Zwischen den Abstimmungsverfahren in der zweiten und der dritten Lesung bestehe ein Unterschied. Bei der zweiten Lesung stimme das Parlament getrennt über jede vorgeschlagene Abänderung ab, so dass jedes Mitglied jede vorgeschlagene Abänderung einzeln billigen oder ablehnen könne, während bei der dritten Lesung das Parlament den gemeinsamen Entwurf nur insgesamt billigen oder ablehnen könne.

58. Die Einbringung neuer und vorher nicht erörterter Abänderungen in die Vermittlung würde außerdem die Gesetzgebungsbefugnisse der Kommission behindern.

59. Der Rat, das Parlament, die Kommission und das Vereinigte Königreich sind der Auffassung, dass der Vermittlungsausschuss seine Zuständigkeit nicht überschritten habe. Die Fassung des Artikels 251 Absatz 4 stütze den restriktiven Standpunkt der Klägerinnen nicht.

Würdigung

60. Im Rahmen des Verfahrens der Mitentscheidung erfolgt eine Einschaltung des Vermittlungsausschusses nur, wenn sich Parlamernt und Rat über die Fassung des vorgeschlagenen Rechtsakts nach jeweils zweimaliger Lesung nicht einig sind.

61. Im vorliegenden Fall hatte das Parlament in zweiter Lesung mehrere Abänderungen des gemeinsamen Standpunkts des Rates beschlossen. Der Rat stimmte nicht allen Abänderungen zu. Deshalb wurde ein Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 251 Absatz 4 EG einberufen.

62. Der Vermittlungsausschuss einigte sich am 14. Oktober 2003. Teil dieser Einigung war, dass Luftfrachtführer Betreuung zu leisten hatten, ohne sich auf „außergewöhnliche Umstände“ berufen zu können. Die Abstimmung des Europäischen Parlaments über den gemeinsamen Entwurf fand am 18. Dezember 2003 statt: Es wurden 467 Ja-Stimmen und 4 Nein-Stimmen bei 13 Enthaltungen abgegeben. Am 26. Januar 2004 billigte der Rat mit qualifizierter Mehrheit den gemeinsamen Entwurf des Vermittlungsausschusses.

63. Ich beginne mit einer kurzen Darstellung des Artikels 251 EG.

64. Das mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte und mit dem Vertrag von Amsterdam geänderte Verfahren der Mitentscheidung, dessen Anwendung durch den Vertrag von Nizza weiter ausgedehnt wurde, ist heutzutage das Hauptgesetzgebungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft. Es soll die Verabschiedung einer Maßnahme verhindern, die nicht sowohl Rat als auch Europäisches Parlament gebilligt haben. Die Betonung liegt dabei auf einem gemeinsam gebilligten Text, der Rat und Parlament auf gleiche Stufe stellt.

65. Das Verfahren besteht aus drei Stufen (erste, zweite und ditte Lesung mit Vermittlung), kann jedoch auf jeder dieser Stufen abgeschlossen werden, wenn Einigkeit zwischen Parlament und Rat erzielt wird.

66. Ein Mitentscheidungsverfahren beginnt stets mit einem Vorschlag der Kommission. Die Kommission unterbreitet ihren Vorschlag gleichzeitig dem Parlament und dem Rat.

67. Der Vorschlag der Kommission erfährt eine erste Lesung im Parlament, mit oder ohne Abänderungen. Er wird mit der Mehrheit der anwesenden Mitglieder verabschiedet.

68. Beschließt das Parlament Abänderungen, so nimmt die Kommission Stellung und legt ihre Stellungnahme gemeinsam mit dem (abgeänderten) Vorschlag dem Rat vor. Billigt der Rat alle Abänderungen des Parlaments oder schlägt dieses keine Abänderungen vor, kann der Rat den Rechtsakt erlassen. Anderenfalls beendet der Rat seine erste Lesung mit der Festlegung eines sogenannten gemeinsamen Standpunkts.

69. Der gemeinsame Standpunkt wird einschließlich der Gründe, die den Rat zur Festlegung des Standpunktes geführt haben, dem Parlament übermittelt, das zugleich von der Kommission über deren Standpunkt unterrichtet wird. Binnen drei (oder bei Verlängerung vier) Monaten kann das Parlament den gemeinsamen Standpunkt billigen (der Rechtsakt ist erlassen), ihn ablehnen (das Verfahren ist beendet) oder ihn in zweiter Lesung abändern. Eine Ablehnung des gemeinsamen Standpunktes oder der Vorschlag von Abänderungen erfolgt mit der Mehrheit der Mitglieder (mindestens 367 Stimmen).

70. Der Standpunkt des Parlaments in der zweiten Lesung wird dem Rat übermittelt, der dann für seine zweite Lesung drei (bei Verlängerung 4) Monate Zeit hat. Billigt der Rat alle Änderungen, so ist der Rechtsakt erlassen. Hat die Kommission auch nur eine Abänderung abgelehnt, so kann der Rat nur einstimmig den Standpunkt des Parlaments billigen. Ist der Rat außerstande, alle Abänderungen zu billigen, so wird das Vermittlungsverfahren eingeleitet, und zwar durch den Präsidenten des Rates im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Parlaments.

71. Die Vermittlung ist die dritte und letzte Stufe des Verfahrens der Mitentscheidung.

72. Der Vermittlungsausschuss besteht aus den Mitgliedern des Rates oder deren Vertretern sowie ebensovielen Mitgliedern des Parlamentes. Auch die Kommission ist in diesem Ausschuss vertreten.

73. Gemäß Artikel 251 Absatz 4 EG:

  • ist es Aufgabe des Vermittlungsausschusses, „eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf zu erzielen“; der Ausschuss „befasst sich hierbei mit dem gemeinsamen Standpunkt auf der Grundlage der vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Abänderungen“;
  • ergreift die Kommission „alle erforderlichen Initiativen, um auf eine Annäherung der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates hinzuwirken“.

74. Wenn der Vermittlungsausschuss keinen gemeinsamen Entwurf billigt, gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen. Somit ist ein gebilligter gemeinsamer Entwurf des Vermittlungsausschusses – ein gemeinsamer Entwurf, der im Ausschuss von den Vertretern des Europäischen Parlaments (mehrheitlich) und von den Vertretern des Rates (mit qualifizierter Mehrheit) gebilligt wurde – Voraussetzung für den endgültigen Erlass des Rechtsaktes.

75. Liegt ein gebilligter gemeinsamer Entwurf vor, so haben das Parlament (mit Mehrheit der abgegebenen Stimmen) und der Rat (mit qualifizierter Mehrheit) das letzte Wort. Nur wenn beide Organe zustimmen, ist der Rechtsakt erlassen.

76. Die Rolle der Kommission in diesem letzten Abschnitt ist anders als in den beiden früheren Abschnitten, in denen sie ihren Standpunkt zur ersten Lesung des Parlaments, zur ersten Lesung des Rates und zur zweiten Lesung des Parlements formuliert. Dass die Kommission nicht länger in der Lage ist, im dritten Abschnitt ihren Vorschlag zurückzuziehen oder den Rat an der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zu hindern, bedeutet nicht, dass ihre Rolle weniger wichtig wäre. Ihre Funktion ist vielmehr von wesentlicher Bedeutung. Sie nimmt an allen Sitzungen teil und hat die heikle Aufgabe, die Verhandlungen zwischen beiden Organen der Gesetzgebung zu erleichtern und zu fördern, indem sie in aller Unparteilichkeit alle erforderlichen Initiativen ergreift, z. B. durch Erarbeitung von Kompromissvorschlägen.

77. Dieser kurze Abriss zeigt, dass das wesentliche Merkmal des Verfahrens der Mitentscheidung die Parität von Rat und Parlament ist. Parlament und Rat stehen in direktem Dialog. Beide Organe der Gesetzgebung müssen sich über den Vorschlag der Kommission einigen. Es gehört zum Wesen des Verfahrens, dass die politischen Ansichten des Rates und des Parlaments nicht immer übereinstimmen. Ein Vermittlungsverfahren, in dem beide Organe der Gesetzgebung prüfen können, ob Gemeinsamkeiten gefunden werden können, ist daher wesentlich.

78. Weil, mit anderen Worten, weder der Rat noch das Parlament Rechtsakte ohne die Zustimmung des anderen erlassen können, sind beide gehalten, Wege zur Beilegung ihrer Meinungsverschiedenheiten zu finden.

79. Das bedeutet, dass der Auftrag der Vertreter im Vermittlungsausschuss ausreichend flexibel sein muss, um den anfänglichen Unterschied zu überbrücken. Wenn die Vertreter mit gebundenen Händen verhandeln müssten, wäre das Vermittlungsverfahren völlig nutzlos.

80. Das bedeutet zugleich, dass kein Organ seinen anfänglichen Standpunkt als unverrückbar betrachten kann.

81. Sinn des Vermittlungsverfahrens ist es, zu verhindern, dass das Verfahren der Mitentscheidung bei unterschiedlichen Standpunkten von Rat und Parlament in eine Sackgasse gerät, die den Interessen der Gemeinschaft schaden könnte.

82. Der Versuch, Einigkeit zu erzielen, bedeutet, Kompromisse zu schließen. Um Kompromisse zu erreichen, kann es erforderlich werden, Vorschriften zu überdenken, die zuvor keine Meinungsverschiedenheit ausgelöst hatten. Außerdem kann eine einvernehmliche Änderung eine andere Änderung auslösen, um sicherzustellen, dass die schließlich erlassene Maßnahme als Ganzes kohärent ist.

83. Die Flexibilität, die die Fassung des Artikels 251 Absatz 4 EG bietet, spiegelt sich auch in der konstruktiven Rolle wider, die die Kommission im Vermittlungsverfahren zu übernehmen hat. Ihre Rolle ist es, alle erforderlichen Initiativen zu ergreifen, um die Standpunkte des Parlaments und des Rates anzunähern.

84. Diese Initiativen sind nicht auf Punkte beschränkt, über die die beiden anderen Organe uneins sind.

85. Ich fasse zusammen: Wie es Artikel 251 Absatz 4 festlegt, hat sich der Ausschuss mit dem gemeinsamen Standpunkt auf der Grundlage der vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Abänderungen zu befassen. Das bedeutet indessen nicht, dass der Ausschuss nur Vorschriften der vorgeschlagenen Maßnahme erörtern dürfte, über die Parlament und Rat uneins sind, oder dass eine Vorschrift des gemeinsamen Standpunktes, die das Parlament in zweiter Lesung nicht abgeändert hat, ohne Abänderung in den letztendlich gebilligten Entwurf übernommen werden müsste. Ein solches Ergebnis würde dem eigentlichen Ziel des Vermittlungsverfahrens widersprechen, eine Annäherung der beiden Organe der Gesetzgebung zu erreichen. Eine solche Auslegung würde auch die Kommission daran hindern, ihre unparteiliche Rolle als Vermittler zu spielen.

86. Klar ist auch, dass der Umfang der Befugnis des Vermittlungsausschusses nicht unbegrenzt ist. Erstens ist Ausgangspunkt für eine Einigung die bisherige Uneinigkeit von Rat und Europäischem Parlament. Zweitens darf der Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Maßnahme nicht grundlegend geändert werden.

87. Im Licht der vorstehenden Ausführungen muss das Vorbringen der Klägerinnen gewürdigt werden.

88. Sie bringen als Erstes vor, dass der Vermittlungsausschuss sich nur mit den vom Parlament in zweiter Lesung beschlossenen Abänderungen befassen dürfe, über die Rat und Parlament uneins seien.

89. Nach den vorstehenden Ausführungen könnte diese strikte Auslegung der Klägerinnen die Erzielung einer Übereinkunft ernsthaft gefährden. Eine Stütze für ihren Standpunkt findet sich ebensowenig im Wortlaut des Artikels 251 Absatz 4 EG wie im Daseinsrecht des Vermittlungsverfahrens. Artikel 251 Absatz 4 EG bestimmt, dass der Ausschuss „sich … mit dem gemeinsamen Standpunkt auf der Grundlage der vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Abänderungen [befasst]“. Die Worte „auf der Grundlage der“ besagen gerade, dass diese Abänderungen für den Ausschuss nicht bindend sind. Diese Abänderungen sollen nur der Ausgangspunkt für die Verhandlungen im Vermittlungsverfahren sein. Artikel 251 Absatz 4 EG bestimmt daher nicht, dass der Ausschuss sich nur mit Vorschriften befassen solle, über die keine Einigkeit besteht, oder dass jede Vorschrift des gemeinsamen Standpunktes, die das Parlament in zweiter Lesung nicht abgeändert hat, ohne Änderung in den letztlich gebilligten Entwurf aufgenommen werden müsse.

90. Zweitens machen die Klägerinnen geltend, dass die Befugnis, in der Vermittlung „neue“ Abänderungen einzuführen, das institutionelle Gleichgewicht störe, zu fehlender Transparenz führe und und die demokratische Legitimation von Gemeinschaftsakten untergrabe.

91. Die Klägerinnen haben auf Urteile verwiesen, in denen der Gerichtshof entschieden habe, dass ein Verstoß gegen Vorschriften des EG-Vertrags oder des nachrangigen Gemeinschaftsrechts über die Entscheidungsfindung der Gemeinschaft, die das institutionelle Gleichgewicht in der Gemeinschaft sicherstellen sollten, die Verletzung eines wesentlichen Formerfordernisses und die Rolle des Parlaments beim Verfahren der Entscheidungsfindung ein grundlegendes demokratisches Prinzip darstellten. Auf der Grundlage des institutionellen Gleichgewichts müsse die Rolle des Vermittlungsausschusses darauf beschränkt werden, einen Kompromiss bezüglich der vom Parlament vorgeschlagenen Abänderungen zu finden. Außerdem untergrabe die Abänderungsbefugnis des Vermittlungsausschusses die ausschließliche Befugnis der Kommission, das Gesetzgebungsverfahren einzuleiten.

92. In meinen Augen ist die angeführte Rechtsprechung im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Offenkundig ist das Parlament in einem Verfahren der Mitentscheidung voll beteiligt. Wie ich mehrfach ausgeführt habe, ist das Vermittlungsverfahren ein wesentlicher Teil des Verfahrens nach Artikel 251 EG, das zu befolgen ist, wenn nach der zweiten Lesung Einigkeit nicht erzielt werden konnte. Eine Einigung zwischen den Vertretern beider Organe der Gesetzgebung über einen gemeinsamen Entwurf ist conditio sine qua non für den Erlass eines Rechtsaktes der Gemeinschaft. Das bedingt ein gewisses Maß an Flexibilität auf beiden Seiten.

93. Dieses Vermittlungsverfahren, wie es vorstehend beschrieben und erläutert wurde, stellt seinem Wesen nach ein grundlegendes Element des institutionellen Gleichgewichts dar. Dieses Verfahren sorgt für die volle Beteiligung beider Organe der Gesetzgebung auf gleicher Ebene und erlaubt der Kommission ihre Funktion als Mittler voll durchzuführen. Deshalb geht das Argument fehl, dass die Vertreter des Parlaments im Vermittlungsverfahren sich nur mit Abänderungen in zweiter Lesung befassen dürften. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dies eine unerwünschte Situation wäre, und komme auf diesen Punkt später zurück.

94. Zweitens kann der Ausschuss, wie bereits bemerkt, in der Vermittlung den Anwendungsbereich des vorgeschlagenen Aktes nicht grundlegend ändern.

95. Was die Abstimmung im Europäischen Parlament anlangt, so führt es nicht zu einer „Geisel“-Situation oder zu weniger Demokratie, dass jedes Mitglied des Parlaments in zweiter Lesung zu jeder vorgeschlagenen Abänderung seine Stimme abgeben kann, die Mitglieder in dritter Lesung aber nur den gemeinsamen Entwurf als Ganzes billigen oder ablehnen können. Es ist dem Verfahren eigen, dass es nicht ad infinitum weitergehen kann. Eine Entscheidung – Billigung oder Ablehnung – muss getroffen werden.

96. Zusätzlich erhalten die Vertreter des Parlaments im Vermittlungsausschuss ihren Auftrag vom Parlament, spiegelt die Auswahl der Mitglieder im Ausschuss die Vertretung der Parteien im Parlament recht gut wider und ist es ihre Aufgabe, eine redliche Einigung zu erzielen. Ist der gemeinsame Entwurf erst gebilligt, kann das Verfahren nicht erneut beginnen, indem man jedem Mitglied erlaubt, über jeden Teil des erzielten Kompromisses abzustimmen.

97. Nebenbei weise ich darauf hin, dass die Mitglieder des Rates, die den Rat nicht als Organ vertreten, auch Mitglieder ihrer jeweiligen Regierungen sind, die ihrerseits im jeweiligen Mitgliedstaat demokratisch kontrolliert werden.

98. Schließlich steht auch das Initiativrecht der Kommission nicht auf dem Spiel. Bei seinen Verhandlungen ist der Ausschuss zwar nicht auf die Abänderungen beschränkt, über die Rat und Parlament uneins sind, aber am Ende sollte der gemeinsame Entwurf den gleichen Gegenstand aufweisen wie der ursprüngliche Kommissionsvorschlag.

99. Im vorliegenden Fall liegen die im Vermittlungsausschuss gebilligten Abänderungen im Rahmen der vorgeschlagenen Handlung. Zwar hatte das Parlament nur im Kontext des Artikels 6, nicht aber für Artikel 5 eine besondere Abänderung bezüglich der Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“ vorgeschlagen. Es ist aber klar, dass zwischen beiden Vorschriften eine Parallele besteht. Beide Vorschriften waren in den Phasen vor der Vermittlung in der Diskussion. Ich teile die Auffassung des Parlaments, des Rates und der Kommission, dass die Abänderung während des Vermittlungsverfahrens zweifelsfrei innerhalb des Rahmens des voraufgegangenen Gesetzgebungsverfahrens lag.

Dritte und vierte Frage (Rechtssicherheit und Begründung)

100. Mit der dritten Frage will das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 5 – Annullierung – und 6 – Verspätung – deshalb ungültig sind, weil sie mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar sind. Die vierte Frage befasst sich mit dem Fehlen einer angemessenen Begründung und/oder faktischer Rechtfertigung.

101. Die Klägerinnen machen geltend, dass die Fassung der Artikel 5 und 6 den Begründungserwägungen 14 und 15 der Verordnung widerspreche und damit zu Rechtsunsicherheit führe.

102. Nach ständiger Rechtsprechung gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass eine Regelung, mit der Personen Verpflichtungen auferlegt werden, klar und bestimmt ist, damit diese ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit ihre Vorkehrungen treffen können. Es entspricht ebenfalls ständiger Rechtsprechung, dass die Begründungserwägungen eines Rechtsaktes der Gemeinschaften rechtlich nicht verbindlich sind und nicht zur Rechtfertigung einer Abweichung von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsaktes angeführt werden können.

103. Im vorliegenden Fall ist der Wortlaut der Artikel 5 und 6 vollkommen unzweideutig. Wie bereits gesagt, hat der Luftfrachtführer bei Annullierung stets Betreuung bzw. Erstattung/anderweitige Beförderung zu leisten. Der Fluggast hat zudem Anspruch auf Ausgleich, falls der Luftfrachtführer nicht nachweist, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Bei Verspätung haben die Fluggäste keinen Anspruch auf Ausgleich gemäß Artikel 7, obwohl der Luftfrachtführer nach wie vor verpflichtet ist, Betreuung und Erstattung/anderweitige Beförderung zu leisten.

104. Ich sehe daher keine Grundlage für die Behauptung eines Verstoßes gegen die Rechtssicherheit. Außerdem sind die Begründungserwägungen, wenn man sie im Zusammenhang mit den Artikeln 5 und 6 liest, überaus klar. Selbst wenn man davon absieht, dass die Begründungserwägungen nicht verbindlich sind, sind sie doch ebenfalls klar.

105. Die Begründungserwägungen 12 bis 16 gelten der Annullierung, während die Begründungserwägungen 17 und 18 die Verspätung behandeln. Begründungserwägung 12 stellt fest, dass die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten, wenn sie diese nicht vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen unterrichten, und ihnen darüber hinaus eine anderweitige Beförderung anbieten sollen, falls nicht die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht. Begründungserwägung 13 erwähnt die anderen Rechte der Fluggäste (Erstattung oder anderweitige Beförderung und Betreuung). Begründungserwägung 14 gibt Beispiele für außergewöhnliche Umstände. Auf das Übereinkommen von Montreal wird hingewiesen. Es ist aber auch klar, dass die Verordnung und das Übereinkommen von Montreal unterschiedliche Fragen behandeln, da das Übereinkommen keine Pflichten wie Unterstützung oder anderweitige Beförderung/Erstattung kennt. Es ist daher klar, dass die in Begründungserwägung 14 genannte Einwendung sich auf die Pflicht des Luftfrachtführers zur Erstattung bei Annullierung bezieht. Zwar spricht auch die Begründungserwägung 15 von der Verspätung, da indessen keine Pflicht zur Erstattung bei Verspätung besteht, ist die Erwähnung der Verspätung in Begründungserwägung 15 überflüssig.

106. Die Klägerin ELFAA macht auf der Grundlage eines angeblichen ausschließenden Gegensatzes von Begründungserwägungen und den Artikeln 5 und 6 der Verordnung weiter geltend, dass die von der Verordnung auferlegten Pflichten zur Erstattung, anderweitiger Beförderung und Unterstützung bei auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführenden Annullierungen und Verspätungen nicht angemessen begründet seien. Der Gemeinschaftsgesetzgeber habe keinerlei Beweismaterial zur Zahl der Fluggäste angeführt, die jährlich von Annullierungen oder großen Verspätungen betroffen würden. Zweitens seien die von der Verordnung auferlegten Pflichten nicht geeignet, das Ziel einer Reduzierung des Ärgers und der Unannehmlichkeit zu erreichen, die Fluggästen durch Annullierung und Verspätung entstünden, und drittens habe der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht erläutert, weshalb er sich entschieden habe, den Luftfrachtführern, insbesondere den Niedrigtarif-Flugunternehmen, unverhältnismäßige Pflichten aufzuerlegen.

107. Meines Erachtens liegt kein Gegensatz vor, der irgendeine rechtliche Auswirkung haben könnte.

108. Gemäß Artikel 253 EG müssen die Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen mit Gründen versehen werden.

109. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass der Umfang der Pflicht zur Begründung von der Rechtsnatur der fraglichen Maßnahme abhängt, und dass dann, wenn eine Maßnahme allgemeine Wirkung haben soll, die Begründung sich darauf beschränken kann, die Gesamtlage anzugeben, die zu ihrem Erlass geführt hat, und die allgemeinen Ziele zu bezeichnen, die mit ihr erreicht werden sollen. Wenn die streitige Maßnahme klar das vom Organ verfolgte wesentliche Ziel erkennen lässt, wäre es übertrieben, eine besondere Begründung für die technischen Einzelheiten zu verlangen.

110. Die 25 Begründungserwägungen der Verordnung zeigen klar die wesentlichen Ziele auf, die mit der letztlich verabschiedeten Regelung verfolgt werden. Den einleitenden Begründungserwägungen zufolge sollten die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Dann wird festgestellt, dass Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen für die Fluggäste ein Ärgernis sind und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachen. Trotz der Verordnung Nr. 295/91 sei die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste immer noch zu hoch; dasselbe gelte für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen, weshalb die Gemeinschaft die Schutzstandards erhöhen sollte (Begründungserwägungen 3 und 4). Annullierung und Verspätung werden insbesondere in den Begründungserwägungen 12, 13 und 17 behandelt. Zum Beispiel gibt Begründungserwägung 12 klar an, dass das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, dadurch verringert werden sollten, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten.

111. Für mich besteht daher kein Zweifel, dass den Erfordernissen des Artikels 253 EG genügt ist.

Fünfte Frage (Verhältnismäßigkeit)

112. Mit seiner fünften Frage will das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 5 und 6 der Verordnung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.

113. Die Klägerinnen machen geltend, dass die fehlende Möglichkeit einer Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“ gegen einen aus den Artikeln 8 und 9 hergeleiteten Anspruch wegen Annullierung (Artikel 5) und Verspätung (Artikel 6) nicht geeignet sei, die Zahl der Verspätungen und Annullierungen zu reduzieren; damit sei die Voraussetzung, dass eine Maßnahme geeignet sein müsse, ein legitimes Ziel zu erreichen, nicht erfüllt. Auch das zweite Erfordernis, dass die Maßnahme nicht über das Erforderliche hinaus gehen dürfe, sei nicht erfüllt. Die finanziellen Auswirkungen seien für Luftfrachtführer, insbesondere für Niedrigtarif-Flugunternehmen, unverhältnismäßig.

114. Bekanntlich fordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – die Klägerinnen haben bereits auf die maßgeblich Voraussetzungen hingewiesen –, dass die von einer Gemeinschaftsbestimmung eingesetzten Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinaus gehen. Wenn zwischen mehreren geeigneten Mitteln gewählt werden kann, ist das am wenigsten einschneidende Mittel vorzuziehen.

115. Es entspricht ebenfalls ständiger Rechtsprechung, dass in Bereichen komplexer Beurteilungen, in denen dem Gemeinschaftsgesetzgeber ein weites Ermessen zusteht, die gerichtliche Nachprüfung der Rechtsakte begrenzt ist. In solchen Fällen darf ein Rechtsakt nur dann für nichtig erklärt werden, wenn er offensichtlich die Grenzen der Zuständigkeit des Gesetzgebers überschreitet.

116. Um die – begrenzte – gerichtliche Nachprüfung durchzuführen, bedarf es zunächst der Ermittlung des Ziels der streitigen Vorschriften.

117. Wie bereits bemerkt, gehen die Ziele der Verordnung dahin, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten infolge kurzfristiger Annullierung und Verspätungen zu reduzieren. Sie erreicht dies dadurch, dass [Ausgleich und] Unterstützung in Form von Erstattung oder anderweitiger Beförderung und Unterstützung für Fluggäste unter besonderen Umständen gewährt werden.

118. Artikel 153 Absatz 2 EG verlangt ferner, dass den Erfordernissen des Verbraucherschutzes bei anderen Gemeinschaftspolitiken wie im vorliegenden Fall der Verkehrspolitik Rechnung getragen wird.

119. Der Verbraucherschutz ist daher unzweifelhaft ein legitimes Ziel, das ausdrücklich im EG-Vertrag vorgesehen ist. Ein Hinweis auf den Verbraucherschutz findet sich nicht nur in Artikel 153 Absatz 2 EG, sondern auch in Artikel 95 Absatz 3 EG, der ausdrücklich für den Verbraucherschutz ein hohes Schutzniveau verlangt.

120. Als nächstes stellt sich die Frage, ob die strittige Maßnahme ein zur Erreichung dieses Ziels geeignetes Mittel darstellt und ob die Maßnahme nicht über das hinaus geht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

121. Ziel der Verordnung ist, wie bereits mehrfach gesagt, das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten der Fluggäste zu verringern, die infolge Verspätung (von zwei Stunden oder mehr) oder Annullierung in letzter Minute nicht befördert worden sind.

122. Begründungserwägung 3 erwähnt, dass die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste immer noch zu hoch sei und dasselbe für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen gelte. Es mag zwar richtig sein, dass die Maßnahme als solche nicht unmittelbar dazu beiträgt, die Zahl der Annullierungen und Verspätungen zu reduzieren, dies ist aber auch nicht das Hauptziel der Verordnung. Hauptziel ist vielmehr, dass Fluggäste sofort und an Ort und Stelle unabhängig vom Preis des Flugtickets und davon, ob der Luftfrachtführer für die Verspätung oder Annullierung verantwortlich ist, Unterstützung erhalten. In beiden Fällen ist die Unannehmlichkeit für den Fluggast dieselbe.

123. Meines Erachtens besteht kein Zweifel, dass die den Luftfrachtführern auferlegte Pflicht zur Leistung von Unterstützung und Betreuung ein geeignetes Mittel ist, Ärgernis und Unannehmlichkeiten der Fluggäste infolge Verspätungen und Annullierungen zu reduzieren.

124. Weiterhin hat der Gemeinschaftsgesetzgeber beim Ausgleich der widerstreitenden Interessen der Luftfrachtführer einerseits und der Fluggäste andererseits berücksichtigt, dass Fluggäste, wenn die Dinge schief laufen, in hohem Maße auf die Effizienz und Hilfsbereitschaft des Flugunternehmens angewiesen sind, dass Luftfrachtführer besser als nicht beförderte Fluggäste über Flugmaßnahmen informiert und eher in der Lage sind, Unterstützung und Betreuung zu leisten.

125. Es ist auch sachgerecht, dass „außergewöhnliche Umstände“ bei der Pflicht zur Leistung von Unterstützung und Betreuung in Situationen keine Rolle spielen, in denen Fluggäste mit Verspätungen und Annullierungen konfrontiert werden. Wie die Gemeinschaftsorgane hervorgehoben haben, könnte fehlende Information leicht zu einer mißbräuchlichen Berufung auf solche Umstände führen, die die Fluggäste ohne Betreuung ließe. Das Gleiche gilt für Situationen, in denen der Grund der Verspätung ungewiss ist oder diese auf mehr als einen Grund zurückzuführen ist.

126. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat somit mit seiner Entscheidung, dass die Möglichkeit einer Berufung auf außergewöhnliche Umstände die Erreichung der Ziele der Verordnung untergraben würde, den Bereich seines Ermessensspielraums nicht überschritten.

Sechste Frage (Diskriminierung)

127. Diese Frage umfasst zwei Aspekte: (1) eine angebliche Diskriminierung von Niedrigpreis-Flugunternehmen im Luftfrachtbereich gegenüber anderen Arten der (Niedrigpreis‑) Beförderung von Fahrgästen, und (2) eine angebliche Diskriminierung von Niedrigpreis- gegenüber Hochpreis-Flugunternehmen.

128. Zum ersten Teil der Frage macht die Klägerin ELFAA geltend, dass keine andere Art der Beförderung ähnlichen Regeln wie denen der Verordnung unterliege.

129. Zum zweiten Teil macht die Klägerin ELFAA geltend, dass das Geschäftsmodell ihrer Mitglieder und anderer vergleichbarer Flugunternehmen auf der Prämisse beruhe, dass sie Niedrigpreise (von durchschnittlich 50 €) für alle Flüge zu jeder Zeit anböten. Das Geschäftsmodell der Hochpreis-Flugunternehmen beruhe, auch wenn einige von ihnen gelegentlich Flüge zu niedrigeren Preisen verkauften, auf der Prämisse, dass der größte Teil ihrer Einnahmen aus sehr viel höheren Flugpreisen stamme, so dass sie besser in der Lage seien, die Auswirkungen einer Haftung nach Artikel 5 und 6 bei jedem einzelnen Flug zu tragen. Das könne von ELFAA-Mitgliedern nicht gesagt werden, die folglich von der Verordnung diskriminiert würden.

130. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung oder der Gleichbehandlung, ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, verlangt, dass gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass dies objektiv gerechtfertigt ist.

131. Es liegt auf der Hand, dass zwischen Luftbeförderung und anderen Verkehrsbereichen wie Straße, Schiene und See ein Unterschied besteht. Die unterschiedlichen Verkehrsbereiche unterliegen verschiedenen Rechtssatzgruppen des Völkerrechts und ebenso des Gemeinschaftsrechts.

132. Außerdem werden Beförderungsdienstleistungen mit unterschiedlichen Arten der Beförderung unter verschiedenen Umständen erbracht, die als solche unterschiedliche Regelungsansätze rechtfertigen. Diese Unterschiede laufen nicht auf eine Diskriminierung hinaus.

133. Ich bemerke nebenbei, dass die Kommission kürzlich einen Vorschlag für den Eisenbahnverkehr vorgelegt hat, der ähnliche Vorschriften für den Fahrgastschutz wie die Verordnung enthält.

134. Zur angeblichen Diskriminierung von Niedrigpreis‑ gegenüber Hochpreis-Flugunternehmen bemerke ich Folgendes. Alle Luftfrachtführer der Gemeinschaft sind, wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, dem gleichen Regelungsrahmen unterstellt, insbesondere der Verordnung Nr. 2407/92 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen, der Verordnung Nr. 2408/92 über den Zugang von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zu Strecken des innergemeinschaftlichen Flugverkehrs und der Verordnung Nr. 2409/92 über Flugpreise und Luftfrachtraten. Nach der letztgenannten Verordnung können Luftfrachtführer ihre Preise frei festlegen.

135. Damit können Flugunternehmen ihre eigenen Preise festlegen. Sie sind ebenfalls frei, diese Preispolitik für den Zugang zu bestimmten Märkten einzusetzen. Trotz dieser wirtschaftlichen Freiheit sind sie nicht davon befreit, bestimmte öffentlich-rechtliche Vorschriften einzuhalten, die zum Schutz der Fluggäste festgelegt worden sind.

136. Die Überlegung, dass wirtschaftliche Unterschiede, die unmittelbares Ergebnis von Marktverhalten und ‑strategien sind, zur Folge haben müßten, dass die Unternehmen anderen oder weniger einschränkenden Bedingungen unterlägen, würde das System auf den Kopf stellen und völlig außer Acht lassen, dass Vorschriften des Fluggastschutzes allgemein ohne Rücksicht auf den Flugpreis Geltung beanspruchen.

137. Billige Preise vermitteln mit anderen Worten keine privilegierte Stellung vor dem Gesetz.

138. Eine solche privilegierte Stellung würde nicht nur den Fluggastschutz aushöhlen, sondern auch zur Diskriminierung führen. Es ist klar, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Gesetzgebung nicht die Strategien berücksichtigen kann, die verschiedene Luftfrachtführer entwickelt haben.

Siebte Frage

139. Mit der siebten Frage will das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, ob Artikel 7 der Verordnung, der, soweit die Verordnung eine Ausgleichszahlung vorsieht, einen Pauschalbetrag festlegt, deshalb unwirksam ist, weil er diskriminierend, unverhältnismäßig und einer angemessenen Begründung bar ist.

140. Bekanntlich ist ein Ausgleich nur bei Nichtbeförderung oder Annulierung von Flügen zu zahlen. Die Pflicht zur Zahlung eines Aussgleichs an Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung wird von der Klägerin ELFAA im Ausgangsverfahren nicht in Frage gestellt und steht daher in diesem Vorabentscheidungsverfahren nicht zur Debatte.

141. Bei Annullierung kommt Ausgleich nur dann in Betracht, wenn der Luftfrachtführer es unterlassen hat, den Fluggast rechtzeitig vor der planmäßigen Abflugzeit von der Annullierung des Flugs zu unterrichten. Ein Luftfrachtführer hat überhaupt keinen Ausgleich zu zahlen, wenn er nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnlichen Umstände beruht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

142. Die von den Klägerinnen gerügte Ungültigkeit bezieht sich somit nur auf die Situationen, in denen der Luftfrachtführer die Fluggäste nicht rechtzeitig unterrichtet hat und die Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“ nicht möglich ist.

143. Was die angebliche Ungültigkeit wegen Unverhältnismäßigkeit und Diskriminierung anlangt, verweise ich auf meine Ausführungen zu den Fragen 5 und 6.

144. Ergänzend möchte ich sagen, dass die Festlegung dreier verschiedener Ausgleichsebenen nach Maßgabe der Dauer der Flugzeit sicherstellen soll, dass der Ausgleich der Unannehmlichkeit angepasst ist, die die Fluggäste hinnehmen müssen. Das scheint mir recht und billig zu sein.

145. Außerdem sind die letztlich festgelegten Beträge im Wesentlichen eine Aktualisierung des Ausgleichsniveaus, die die Inflation seit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 295/91 berücksichtigt, die Fluggästen bei Nichtbeförderung einen Ausgleich gewährte.

146. Anscheinend ist die Klägerin ELFAA in erster Linie wegen des Betrages von 250 EUR beunruhigt. Wie das Parlament aufzeigt, liegt dieser Betrag nahe bei dem Betrag von 225 EUR, der von der Association of European Airlines 2002 als Mindestniveau des Ausgleichs bei Nichtbeförderung vorgeschlagen worden war. Mir scheint, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht verpflichtet ist, für seine Entscheidung, letztlich einen Betrag von 250 EUR und nicht 50 EUR mehr oder weniger zu wählen, eine detaillierte Begründung zu geben.

Achte Frage

147. Mit seiner achten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Kriterien es für seine Entscheidung heranziehen sollte, eine oder mehrere Fragen zur Gültigkeit einer Gesetzgebungsmaßnahme der Gemeinschaft dem Gerichtshof vorzulegen.

148. Nach Auffassung des Europäischen Parlaments ist diese Frage unzulässig, weil das vorlegende Gericht bereits entschieden habe, dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Gültigkeit der Verordnung vorzulegen, und dies auch getan habe. Die Beantwortung dieser Frage habe keinerlei Auswirkung auf die Entscheidung des vorlegenden Gerichts oder den Ausgang des Rechtsstreits.

149. Ich räume ein, dass der Gerichtshof in mehreren Rechtssachen entschieden hat, dass er über eine von einem nationalen Gericht vorgelegte Frage nicht vorab entscheiden könne, wenn offensichtlich sei, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Gemeinschaftsvorschrift, um die das vorlegende Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist. Es ist in einem Vorabentscheidungsverfahren nicht Aufgabe des Gerichtshofs, Gutachten über allgemeine oder hypothetische Fragen zu erstellen.

150. Jedoch kann es meines Erachtens Ausnahmefälle geben, in denen es nützlich ist, dem nationalen Gericht bei der Entscheidung zu helfen, ob und unter welchen Umständen es Fragen vorlegen darf oder muss. Für ein jüngeres Beispiel verweise ich auf die Rechtssache Gaston Schul, in der der Gerichtshof noch nicht entschieden hat. Generalanwalt Ruiz‑Jarabo Colomer schlägt in seinen Schlussanträgen vor, der Gerichtshof solle in dieser Rechtssache nicht formalistisch entscheiden, weil dies mit bestimmten Aufgaben des Gerichtshofs in Konflikt geraten könne. Diese Rechtssache betraf die Frage, ob ein Gericht im Sinne von Artikel 234 Absatz 3 EG zur Vorlage eines Ersuchens um Vorabentscheidung über die Gültigkeit von Vorschriften einer Verordnung verpflichtet sei, wenn der Gerichtshof bereits die Ungültigkeit ähnlicher Vorschriften einer anderen vergleichbaren Verordnung festgestellt habe, oder ob es angesichts der klaren Parallelen zwischen den in Rede stehenden und den für ungültig erklärten Vorschriften von dieser Pflicht entbunden sei.

151. Obwohl in der vorliegenden Rechtssache keine Notwendigkeit besteht, die Frage zu beantworten, bin ich gleichwohl der Meinung, dass dies nützlich sein könnte.

152. Die Antwort kann dem Wortlaut des Artikels 234 EG entnommen werden, den der Gerichtshof in den Urteilen CILFIT und Foto-Frost weiter geklärt hat.

153. Seit dem Urteil CILFIT wissen wir, dass der bloße Umstand, dass nach dem Vorbringen einer Partei der Rechtsstreit eine Frage der Auslegung von Gemeinschaftsrecht aufwirft, nicht bedeutet, dass das betreffende Gericht zu der Annahme gezwungen ist, dass eine Frage im Sinne des Artikels 234 EG aufgeworfen worden ist. Dem Wortlaut des Artikels 234 EG und dem Urteil CILFIT ist ferner zu entnehmen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, zu entscheiden, ob es eine Vorabentscheidung für die Entscheidung in der Sache benötigt, auch wenn ein letztinstanzliches Gericht zur Vorlage verpflichtet ist, falls nicht die Frage irrelevant ist oder die betreffende Gemeinschaftsvorschrift bereits vom Gerichtshof ausgelegt worden ist oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derartig offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum besteht. Dem Urteil Foto-Frost ist zu entnehmen, dass ein nationales Gericht nicht zur Vorlage einer Frage verpflichtet ist, wenn es die von den Parteien vorgebrachten Gründe für die Ungültigkeit für nicht zutreffend hält, und sie mit der Feststellung zurückweisen kann, dass die Handlung in vollem Umfang gültig ist. Teilt es deren Meinung, so hat es vorzulegen, weil ein nationales Gericht nicht befugt ist, Handlungen von Gemeinschaftsorganen für ungültig zu erklären.

154. Den Erklärungen der Regierung des Vereinigten Königreichs zufolge sind die Regeln über die Prozessführungsbefugnis in England und Wales recht großzügig, kann jede Person eine Klage wegen der Durchführung einer Gemeinschaftsmaßnahme erheben, falls sie ein hinreichendes Rechtsschutzinteresse hat, und hat das zuständige Gericht die Kriterien für ein hinreichendes Interesse mit der möglichen Folge sehr weit ausgelegt, dass eine große Zahl von Klagen bezüglich der Gültigkeit von Gesetzgebungsmaßnahmen der Gemeinschaft vor das nationale Gericht gebracht werden können.

155. Dies mag gewiss zutreffen, doch bleibt es ausschließlich Sache des nationalen Gerichts, darüber zu entscheiden, ob irgendein Zweifel an der Gültigkeit einer Gemeinschaftsmaßnahme besteht, der eine Vorlage an den Gerichtshof rechtfertigen könnte.

V – Ergebnis

156. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom High Court of Justice of England and Wales, Queen’s Bench Division, vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

  • Die Prüfung der ersten sieben Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Frage stellen könnte.
  • Im Rahmen der gerichtlichen Zusammenarbeit gemäß Artikel 234 EG ist es Sache des nationalen Gerichts, die Notwendigkeit der Vorlage einer Frage an den Gerichtshof zu beurteilen, wobei gegebenfalls die vom Gerichtshof in den Rechtssachen CILFIT und Foto-Frost ermittelten Grundsätze zu berücksichtigen sind.

Siehe auch