Schlussanträge des Generalanwalts Ján Mazák vom 26. Januar 2010 (Rechtssache C‑63/09)

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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 26. Januar 2010

Rechtssache C‑63/09

Axel Walz

gegen

Clickair SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Mercantil n° 4 de Barcelona [Spanien])

„Luftverkehr – Haftung der Luftfahrtunternehmen für Reisegepäck – Höchstbetrag bei Zerstörung, Verlust, Beschädigung oder Verspätung des Reisegepäcks – Materielle und immaterielle Schäden“

1. Der Juzgado de lo Mercantil n° 4 de Barcelona (Spanien) hat dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Umfasst der Haftungshöchstbetrag, der in Art. 22 Abs. 2 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften im internationalen Luftverkehr genannt wird, sowohl materielle als auch immaterielle Schäden, die durch den Verlust des Reisegepäcks eintreten?

2. Das vorlegende Gericht hält die Antwort des Gerichtshofs auf diese Frage für notwendig, um über eine von Herrn Axel Walz gegen das Luftfahrtunternehmen Clickair SA (im Folgenden: Clickair) erhobene Klage auf Zahlung einer Entschädigung für den Verlust seines Koffers entscheiden zu können.

3. Der Koffer ging am 4. Juni 2007 bei einem von Clickair durchgeführten Flug von Barcelona nach Porto verloren. Herr Walz gab seinen Koffer für diesen Flug auf, bei seiner Ankunft in Porto erhielt er sein Gepäck jedoch nicht zurück.

4. Herr Walz verlangt eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 3 200 Euro, von denen 2 700 Euro auf den Wert des verlorenen Reisegepäcks und 500 Euro auf den durch diesen Verlust entstandenen immateriellen Schaden entfallen. Clickair beanstandet die Höhe des geforderten Schadensersatzes, da dieser den in Art. 22 Abs. 2 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal) festgelegten Haftungshöchstbetrag bei Gepäckverlust übersteige.

5. Das vorlegende Gericht führt aus, dass das Übereinkommen von Montreal nicht nach der Art der Schäden, auf die sich die Haftung des Luftfahrtunternehmens beziehe, unterscheide, und ist daher der Ansicht, dass der für das Luftfahrtunternehmen geltende Haftungshöchstbetrag sowohl den immateriellen als auch den materiellen Schaden umfassen müsste. Es weist jedoch darauf hin, dass mehrere Auslegungen des Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal möglich seien. Es verweist insbesondere auf das Urteil der Audiencia Provincial de Barcelona vom 2. Juli 2008, nach dem der in Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal festgelegte Haftungshöchstbetrag beim Verlust von Reisegepäck nicht für materielle und immaterielle Schäden zusammen gelte; nach dieser Entscheidung gebe es einen Höchstbetrag für materielle Schäden und einen – ebenso hohen – Höchstbetrag für immaterielle Schäden.

6. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Beklagte des Ausgangsverfahrens und die Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hat beim Gerichtshof eine mündliche Verhandlung beantragt, die am 10. Dezember 2009 stattgefunden hat und an der die Bevollmächtigten der Beklagten des Ausgangsverfahrens und der Kommission teilgenommen haben.

Rechtlicher Rahmen

Übereinkommen von Montreal

7. Das Übereinkommen von Montreal ist das Ergebnis der internationalen diplomatischen Konferenz über Luftverkehrsrecht, die vom 10. bis 28. Mai 1999 in Montreal stattfand. Es wurde von der Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 auf der Grundlage des Art. 300 Abs. 2 EG unterzeichnet und anschließend durch den Beschluss des Rates vom 5. April 2001 genehmigt. Für die Gemeinschaft ist es am 28. Juni 2004 in Kraft getreten.

8. Aus der Präambel des Übereinkommens von Montreal ergibt sich, dass die Vertragsstaaten „[die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes … nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ anerkannt haben.

9. Die Art. 17 bis 37 des Übereinkommens von Montreal bilden dessen Kapitel III „Haftung des Luftfrachtführers und Umfang des Schadenersatzes“.

10. Die Haftung des Luftfahrtunternehmens für den Verlust von aufgegebenem Reisegepäck ist in Art. 17 Abs. 2 dieses Übereinkommens wie folgt geregelt:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht, jedoch nur, wenn das Ereignis, durch das die Zerstörung, der Verlust oder die Beschädigung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder während eines Zeitraums eingetreten ist, in dem sich das aufgegebene Reisegepäck in der Obhut des Luftfrachtführers befand. Der Luftfrachtführer haftet jedoch nicht, wenn und soweit der Schaden auf die Eigenart des Reisegepäcks oder einen ihm innewohnenden Mangel zurückzuführen ist. …“

11. Das Luftfahrtunternehmen haftet jedoch nur bis zu einem Höchstbetrag. Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal sieht Folgendes vor:

„Bei der Beförderung von Reisegepäck haftet der Luftfrachtführer für Zerstörung, Verlust, Beschädigung oder Verspätung nur bis zu einem Betrag von 1 000 Sonderziehungsrechten je Reisenden; diese Beschränkung gilt nicht, wenn der Reisende bei der Übergabe des aufgegebenen Reisegepäcks an den Luftfrachtführer das Interesse an der Ablieferung am Bestimmungsort betragsmäßig angegeben und den verlangten Zuschlag entrichtet hat. In diesem Fall hat der Luftfrachtführer bis zur Höhe des angegebenen Betrags Ersatz zu leisten, sofern er nicht nachweist, dass dieser höher ist als das tatsächliche Interesse des Reisenden an der Ablieferung am Bestimmungsort.“

Verordnung (EG) Nr. 2027/97

12. Die Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal über die Haftung von Luftfahrtunternehmen wurden in die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97) aufgenommen, die zu diesem Zweck durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 geändert wurde.

13. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 bestimmt:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

Würdigung

14. Da die Vorlagefrage die Auslegung der Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrags betrifft, sind vorab zwei Punkte zu nennen, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben und meiner Meinung nach für die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage von Bedeutung sind.

15. Erstens ist das Übereinkommen von Montreal als auf der Grundlage von Art. 300 Abs. 2 EG geschlossenes Abkommen Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung, so dass der Gerichtshof zur Vorabentscheidung über dessen Auslegung befugt ist.

16. Zweitens ist das Übereinkommen von Montreal als völkerrechtlicher Vertrag nach seinem Wortlaut und im Licht seiner Ziele auszulegen. Die Art. 31 der Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge und vom 21. März 1986 über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen, die das betreffende Völkergewohnheitsrecht formalisieren, bestimmen insoweit, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist. Insoweit ist noch hinzuzufügen, dass die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Übereinkommens von Montreal zu dessen einheitlicher Anwendung nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern auch unter allen Vertragsstaaten beitragen sollte.

17. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Regelungen über die Haftung des Luftfahrtunternehmens in Kapitel III des Übereinkommens von Montreal, das im Allgemeinen zwingende Vorschriften enthält, nicht abschließend sind. In den Vorschriften dieses Kapitels sind die für die Haftung des Luftfahrtunternehmens geltenden grundlegenden Prinzipien festgelegt, wie insbesondere die die Haftung begründenden rechtlichen Tatbestände, die Gründe für eine Haftungsbefreiung und die Haftungshöchstbeträge. Die Regelung der übrigen Fragen im Zusammenhang mit der Haftung bleibt den nationalen Rechtsordnungen überlassen.

18. Im vorliegenden Fall wird der Gerichtshof mit der Vorlagefrage ersucht, sich zur Haftung eines Luftfahrtunternehmens für einen Schaden, der durch den Verlust von Reisegepäck entstanden ist, zu äußern, hier konkret zur Begrenzung dieser Haftung.

19. Die Haftpflicht, um die es hier geht, setzt immer das Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Schaden und einem rechtlichen Tatbestand voraus. Der Verlust von Reisegepäck gehört zu den rechtlichen Tatbeständen, die im Fall eines Schadens gemäß den Art. 17, 18 und 19 des Übereinkommens von Montreal eine Haftung des Luftfahrtunternehmens auslösen können. Andere rechtliche Tatbestände betreffen die Reisenden (Tod, Körperverletzung oder Verspätung bei der Beförderung), Güter (Zerstörung, Verlust, Beschädigung oder Verspätung bei der Beförderung) sowie das Reisegepäck (Zerstörung, Beschädigung oder Verspätung bei der Beförderung).

20. Das Übereinkommen von Montreal sieht bei den vorgenannten rechtlichen Tatbeständen zwei verschiedene Regelungen über die Haftung des Luftfahrtunternehmens im Schadensfall vor. Die Haftung für durch Tod oder Körperverletzung des Reisenden entstandene Schäden ist im Allgemeinen unbegrenzt, in allen anderen Fällen, darunter der des Verlusts von Reisegepäck, ist die Haftung jedoch nach Art. 22 des Übereinkommens von Montreal begrenzt.

21. Für den Fall des Verlusts von Reisegepäck, wie er hier gegeben ist, wurde der Haftungshöchstbetrag auf 1 000 Sonderziehungsrechte je Reisenden festgesetzt. Es handelt sich dabei um eine finanzielle Begrenzung, d. h. um einen Entschädigungshöchstbetrag, und nicht um eine Begrenzung des in Art. 17 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal bezeichneten Inhalts der Haftung des Luftfahrtunternehmens. Bei der Prüfung der Frage nach einer Unterscheidung zwischen materiellem und immateriellem Schaden geht es jedoch um den Inhalt der Haftung je nach Schadensart. Jedenfalls bleibt ein Entschädigungshöchstbetrag unabhängig vom Inhalt der betreffenden Haftung immer derselbe.

22. Im Übereinkommen von Montreal wird überdies nur ein allgemeiner Begriff verwendet, der des „Schadens“, der jedoch nicht näher bestimmt wird. Weder aus dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 noch aus dem des Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal lässt sich schließen, dass die Vertragsstaaten beabsichtigt hätten, die Haftung des Luftfahrtunternehmens auf materielle oder auf immaterielle Schäden zu begrenzen. Im Übereinkommen von Montreal wird auch die Art der Entschädigung nicht näher bestimmt, d. h., ob tatsächliche Schäden, entgangene Gewinne oder auch alle anderen in Geld zu bemessenden Schäden zu ersetzen sind. Es bleibt dem nationalen Recht überlassen, den Begriff des „Schadens“ auszufüllen und die Art der Entschädigung näher zu bestimmen.

23. Entsprechend den vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage dahin gehend beantworten sollte, dass das Luftfahrtunternehmen für den Verlust von Reisegepäck unabhängig von der Art der Schäden und der Entschädigung nur bis zu einem Betrag von insgesamt 1 000 Sonderziehungsrechten je Reisenden haftet. Da Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal diesen Höchstbetrag auch bei Zerstörung, Beschädigung und Verspätung vorsieht, gilt die vorgeschlagene Antwort auch für diese Fälle.

Ergebnis

24. Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Juzgado de lo Mercantil n° 4 de Barcelona zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 22 Abs. 2 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften im internationalen Luftverkehr ist dahin gehend auszulegen, dass das Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Reisegepäck für Zerstörung, Verlust, Beschädigung oder Verspätung unabhängig von der Art der Schäden und der Entschädigung nur bis zu einem Betrag von insgesamt 1 000 Sonderziehungsrechten je Reisenden haftet.