Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston vom vom 6. März 2008 (Rechtssache C‑173/07)
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 6. März 2008
Rechtssache C‑173/07
Emirates Airlines Direktion für Deutschland
gegen
Diether Schenkel
„Luftverkehr – Persönlicher Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Rückflüge in die Gemeinschaft aus einem Drittland mit einem Luftfahrtunternehmen, das kein solches der Gemeinschaft ist – Ausgleichsleistungen für Annullierung eines Flugs – Übereinkommen von Montreal“
1. Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 sieht Ausgleichszahlungen an Fluggäste bei Annullierung eines Flugs vor. Sie findet jedoch keine Anwendung auf Fluggäste, die in einem Drittland einen Flug in einen Mitgliedstaat mit einem Luftfahrtunternehmen antreten, das kein solches der Gemeinschaft ist. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob ein Rückflug aus einem Drittland in einen Mitgliedstaat zumindest dann als Teil eines in diesem Mitgliedstaat angetretenen Flugs zu betrachten ist, wenn Hin- und Rückflug gleichzeitig gebucht wurden.
Einschlägige Rechtsvorschriften
Verordnung Nr. 261/2004
2. Die Verordnung Nr. 261/2004 zielt auf eine Erhöhung des Schutzes für Fluggäste in der Gemeinschaft ab. Durch sie wird die Verordnung Nr. 295/91 aufgehoben, die sich darauf beschränkt hatte, bei Nichtbeförderung von Fluggästen und auch dann lediglich bei Linienflügen Erstattung des Preises oder Beförderung mit einem anderen Flug, kostenlose Leistungen sowie Mindestausgleichszahlungen vorzusehen. Die neue Verordnung gilt für alle gewerblichen Flüge und erfasst neben der Nichtbeförderung auch die Annullierung und Verspätung von Flügen. Sie sieht Ausgleichsleistungen für Fluggäste nicht nur im Fall der Nichtbeförderung, sondern auch bei Annullierung und Verspätung von Flügen vor.
3. Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es, dass die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs darauf abzielen sollten, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und dass den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden sollte.
4. Im sechsten Erwägungsgrund wird erklärt: „Der Schutz für Fluggäste, die einen Flug von einem Flughafen in einem Mitgliedstaat antreten, sollte bei Flügen, die von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft durchgeführt werden, auf Fluggäste ausgedehnt werden, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen in einem Mitgliedstaat antreten.“
5. In Art. 3 mit der Überschrift „Anwendungsbereich“ ist der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung festgelegt. Nach Art. 3 Abs. 1 gilt die Verordnung
- „a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;
- b) sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.“
6. An dieser Stelle ist auf einen Unterschied hinzuweisen, der zwischen dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung in den meisten Sprachfassungen der Verordnung und dessen Wortlaut in der deutschen Fassung besteht, die der Frage des vorlegenden Gerichts zugrunde liegt.
7. In den meisten Sprachfassungen findet sich eine Formulierung, die dem Ausdruck in der englischen Fassung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und b „passengers departing from an airport“ (Fluggäste, die von einem Flughafen abfliegen) entspricht. Die deutsche Sprachfassung verwendet dagegen das Wort „Flug“ und lautet „Fluggäste, die auf Flughäfen … einen Flug antreten“. Eine entsprechende Formulierung findet sich im sechsten Erwägungsgrund.
8. Wie Frankreich in seinen schriftlichen Erklärungen zutreffend ausgeführt hat, ändert die Abweichung der deutschen Sprachfassung von den anderen Fassungen nichts am eigentlichen Sinngehalt der Vorschrift. Das Antreten eines Flugs ist die logische Vorstufe zum Abflug. Wenn Fluggäste von einem Flughafen abfliegen, versteht sich von selbst, dass sie dabei einen Flug antreten.
9. Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c haben Fluggäste, deren Flug annulliert wird, unter bestimmten Voraussetzungen gemäß Art. 7 einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen gegen das Luftfahrtunternehmen.
10. In Art. 7 Abs. 1 ist die Höhe der Ausgleichszahlungen festgelegt, die die Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung oder bei Annullierung von Flügen verlangen können. Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c sind für Flüge, die keine innergemeinschaftlichen Flüge sind und die über eine Entfernung von mehr als 3 500 km gehen, 600 Euro an die Fluggäste zu zahlen.
11. Nach Art. 12 Abs. 1 gilt die Verordnung unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes, auf den die nach der Verordnung gewährte Ausgleichsleistung angerechnet werden kann.
12. Schließlich bestimmt Art. 17:
„Die Kommission erstattet dem Europäischen Parlament und dem Rat bis zum 1. Januar 2007 über die Anwendung und die Ergebnisse dieser Verordnung Bericht, insbesondere über Folgendes:
- …
- die mögliche Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Verordnung auf Fluggäste, die in Vertragsbeziehung mit einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft stehen oder eine Buchung für einen Flug als Teil einer Pauschalreise besitzen, für die die Richtlinie 90/314/EWG gilt, und die von einem Flughafen in einem Drittland einen Flug zu einem Flughafen in einem Mitgliedstaat antreten, der nicht von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft durchgeführt wird;
- …“
Das Übereinkommen von Montreal
13. Mit dem Übereinkommen von Montreal, das von der Gemeinschaft unterzeichnet wurde, erfolgt eine Modernisierung und Konsolidierung des Warschauer Abkommens. Es bezweckt u. a. den Schutz des Verbraucherinteresses bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und die Gewährung von angemessenem Schadensersatz nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs.
14. Nach Art. 1 Abs. 1 gilt das Übereinkommen für die internationale Beförderung durch Luftfahrzeuge. In Art. 1 heißt es weiter:
- „(2) Als ‚internationale Beförderung‘ im Sinne dieses Übereinkommens ist jede Beförderung anzusehen, bei der nach den Vereinbarungen der Parteien der Abgangsort und der Bestimmungsort, gleichviel ob eine Unterbrechung der Beförderung oder ein Fahrzeugwechsel stattfindet oder nicht, in den Hoheitsgebieten von zwei Vertragsstaaten liegen oder, wenn diese Orte zwar im Hoheitsgebiet nur eines Vertragsstaats liegen, aber eine Zwischenlandung in dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates vorgesehen ist, selbst wenn dieser kein Vertragsstaat ist. …
- (3) Ist eine Beförderung von mehreren aufeinanderfolgenden Luftfrachtführern auszuführen, so gilt sie, gleichviel ob der Beförderungsvertrag in der Form eines einzigen Vertrags oder einer Reihe von Verträgen geschlossen worden ist, bei der Anwendung dieses Übereinkommens als eine einzige Beförderung, sofern sie von den Parteien als einheitliche Leistung vereinbart worden ist …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
15. Dr. Schenkel buchte im März 2006 eine Flugreise mit Emirates Airlines (im Folgenden: Emirates) von Düsseldorf über Dubai nach Manila und zurück. Emirates ist kein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft.
16. Der Rückflug von Manila am 12. März 2006 wurde annulliert. Dr. Schenkel flog zwei Tage später zurück nach Deutschland.
17. Anschließend erhob er Klage beim Amtsgericht Frankfurt am Main auf Zahlung von 600 Euro als Ausgleich für die Flugannullierung und stützte sich dabei auf die Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004.
18. Sein Anspruch auf Ausgleichsleistung hängt davon ab, ob Dr. Schenkel in den in Art. 3 Abs. 1 definierten persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung fällt.
19. Vor dem Amtsgericht machte Dr. Schenkel geltend, Hin- und Rückflug seien Teilabschnitte eines Flugs. Die Annullierung habe daher einen in Deutschland begonnenen Flug betroffen. Emirates trug vor, Hin- und Rückflug seien als zwei getrennte Flüge zu betrachten. Da sie kein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft sei, sei sie nicht zur Zahlung einer Ausgleichsleistung für den annullierten Rückflug aus Manila verpflichtet.
20. Das Amtsgericht gab der Klage statt. Es führte aus, der Begriff „Flug“ im Sinne (der deutschen Sprachfassung) von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 umfasse Hin- und Rückflug, zumindest wenn beide Flugabschnitte gleichzeitig gebucht seien.
21. Emirates legte beim vorlegenden Gericht Berufung ein.
22. Das vorlegende Gericht neigt dazu, den gleichzeitig gebuchten Hin- und Rückflug einer Flugreise angesichts des von der Verordnung Nr. 261/2004 bezweckten Verbraucherschutzes als einen Flug anzusehen. Es stellt fest, dass nach dem Warschauer Abkommen und dem Übereinkommen von Montreal eine Beförderung durch aufeinanderfolgende Luftfrachtführer eine einzige internationale Beförderung darstelle, sofern sie von den Parteien als einheitliche Leistung vereinbart worden sei, wie dies bei gleichzeitiger Buchung von Hin- und Rückreise der Fall sei. Die Verordnung ergänze diese Übereinkünfte um eine Regelung sofortiger Ausgleichszahlungen für von einer Flugannullierung betroffene Fluggäste. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts würde der Schutzbereich der Verordnung hinter dem der Übereinkünfte zurückbleiben, wenn ein Hin- und Rückflug bei gleichzeitiger Buchung nicht als ein Flug gelte.
23. Andererseits stellt das vorlegende Gericht fest, dass der Begriff „Flug“ an anderer Stelle in der Verordnung im Sinne einer von einem Flugzeug zurückgelegten Teilstrecke von einem Ort zum jeweiligen Ziel verwendet werde.
24. Das vorlegende Gericht fragt daher den Gerichtshof:
Ist die Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass „ein Flug“ die Flugreise vom Abflugsort zum Zielort und zurück jedenfalls dann umfasst, wenn Hin- und Rückflug gleichzeitig gebucht werden?
25. Emirates, Dr. Schenkel, Frankreich, Griechenland, Polen, Schweden und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung ist nicht beantragt worden und hat auch nicht stattgefunden.
Würdigung
26. Wie bereits erwähnt, wird in den meisten Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Begriff „Flug“ nicht verwendet. Ich werde daher die Frage umformulieren. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Personen, die mit einem Rückflug von einem Drittland in einen Mitgliedstaat reisen, „Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats … einen Flug antreten“, im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 jedenfalls dann sind, wenn Hin- und Rückflug gleichzeitig gebucht werden. Bejahendenfalls findet die Verordnung Anwendung, und die Fluggäste haben daher prima facie einen Ausgleichsanspruch, wenn der Rückflug annulliert wird.
27. Da der Begriff „Flug“ in den meisten Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fehlt, ist eine Prüfung der Verwendung dieses Begriffs im Kontext anderer Bestimmungen der Verordnung nicht angebracht.
28. Dr. Schenkel trägt vor, „Antreten eines Flugs“ werde gewöhnlich so verstanden, dass sich dieser Begriff auf alle Teilstrecken, einschließlich des Rückflugs, beziehe. Der Begriff „departing“ (oder entsprechende Ausdrücke) in den anderen Sprachfassungen der Verordnung Nr. 261/2004 beziehe sich auf die gesamte Reise. Ferner würden Hin- und Rückflug in der Regel in einem Vorgang gebucht, und der Fluggast erhalte einen Flugschein.
29. Wäre – so Dr. Schenkel – mit dem Begriff „Flug“ in (der deutschen Sprachfassung) von Art. 3 Abs. 1 lediglich die in der Gemeinschaft ausgeführte Teilstrecke gemeint, würde dies den Zweck der Verordnung unterlaufen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Den Fluggästen würde der Schutz außerhalb des Gebiets der Gemeinschaft versagt, wo sie seiner am meisten bedürften. Nach dem Warschauer Abkommen und dem Übereinkommen von Montreal sei als Hin- und Rückreise ein Flug von A nach B und zurück anzusehen. Hätte der Gemeinschaftsgesetzgeber von diesen Übereinkünften abweichen wollen, hätte er seine Absicht deutlich zum Ausdruck gebracht.
30. Alle anderen Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, sind sich einig, dass Hinflug und Rückflug nicht einen einheitlichen „Flug“ im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen.
Art. 3 Abs. 1
31. Ihrer natürlichen Bedeutung nach bezeichnen die Wendungen „auf Flughäfen … einen Flug antreten“ (in der deutschen Fassung) und „von einem Flughafen abfliegen“ (in den anderen Fassungen) beide eine bestimmte Einzelreise auf dem Luftweg. Zum Zeitpunkt des Rückflugs einer Hin- und Rückreise ist das Abfliegen mit dem anfänglichen Hinflug bereits Vergangenheit. Von einer Person, die in einen Rückflug von Singapur nach Rom einsteigt, wird man in der Regel nicht sagen, sie trete einen Flug in Rom an. Es lässt sich auch nicht sagen, dass sie von Rom abfliegt.
32. Hätte der Gemeinschaftsgesetzgeber die in den verschiedenen Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 1 verwendeten Formulierungen so verstanden wissen wollen, dass auch Rückflüge erfasst sind, hätte man die Bestimmung ohne Weiteres anders fassen können. In einem Unterabsatz hätte erklärt werden können, dass maßgeblich für die gesamte Reise – hin und zurück – der Abflugsort des ersten Flugabschnitts ist.
33. Bei der von Dr. Schenkel vorgeschlagenen Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in seiner tatsächlichen Fassung ist man zu der Annahme gezwungen, i) dass eine Hin- und Rückreise ein einziger Flug ist und ii) dass dieser Flug „zu“ dem ursprünglichen Abflugsort geht. Für den Schutz der Fluggäste ergeben sich daraus folgende Konsequenzen. Wer seine Hin- und Rückreise auf einem Flughafen in der Gemeinschaft (zu einem Flughafen in einem Drittland und zurück) beginnt, ist unabhängig vom Luftfahrtunternehmen sowohl für den Hinflugabschnitt als auch den Rückflugabschnitt gedeckt. Wer jedoch seine Hin- und Rückreise in einem Drittland (zu einem Flughafen in der Gemeinschaft und zurück) beginnt, erhält keinen Schutz durch die Verordnung. Selbst wenn er mit einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft fliegt, fliegt er nicht zu „einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt“.
34. Man hätte den Rechtsakt so formulieren können, dass eine Gewichtung zugunsten des höchstmöglichen Schutzes für Fluggäste, die ihre Reise in der Europäischen Union beginnen, und zulasten derjenigen Fluggäste, die ihre Reise in einem Drittland beginnen, erfolgt. Diesen Weg hat der Gesetzgeber jedoch nicht gewählt.
35. Nach der klaren Bedeutung des Wortlauts sind vielmehr alle Hinflüge erfasst, die von „Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt“, abgehen (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a), Rückflüge hingegen nur, wenn sie von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ausgeführt werden (Art. 3 Abs. 1 Buchst. b).
Verordnungszweck
36. Mit der Verordnung Nr. 261/2004 sollen ausdrücklich ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sichergestellt und die in der Verordnung Nr. 295/91 festgelegten Schutzstandards erhöht werden.
37. Ebenso offensichtlich begrenzt Art. 3 Abs. 1 diesen Schutzbereich. Sämtliche Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats einen Flug antreten, sind geschützt. Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats antreten, sind nur dann geschützt, wenn sie mit einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft fliegen.
38. Aus den Materialien ergibt sich, dass der genaue Anwendungsbereich der vorgeschlagenen neuen Verordnung bezüglich Flügen von Flughäfen in Drittländern in die Gemeinschaft Gegenstand besonderer Erörterungen war.
39. Gemäß Art. 3 Abs. 1 des ursprünglichen Vorschlags der Kommission sollten Fluggäste, die von einem Drittstaat einen Flug in das Gebiet eines Mitgliedstaats antreten, einbezogen sein, wenn sie einen Vertrag mit einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft über eine im Gemeinschaftsgebiet angebotene Pauschalreise haben.
40. In einem anschließenden Dokument des Rates, mit dem nach Beratungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter und der zuständigen Gruppe der überarbeitete Verordnungsentwurf vorgestellt wurde, heißt es, dass eine der zwei „wichtigsten noch offenen Fragen“ gerade der nunmehr in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b definierte Anwendungsbereich der Verordnung für Flüge aus Drittländern sei. Der ausführlichen Fußnote zum Text dieses Unterabsatzes zufolge (der zu diesem Zeitpunkt bereits identisch mit dem endgültig verabschiedeten Wortlaut war) befürworteten bestimmte Mitgliedstaaten eine Ausdehnung des Schutzes auf Fluggäste, die auf einem Flughafen in einem Drittland in einen Flug zu einem Ziel innerhalb der Gemeinschaft einsteigen, während andere Mitgliedstaaten dies ablehnten; außerdem wurde jeweils auf Probleme der Extraterritorialität, Durchsetzbarkeit und Diskriminierung hingewiesen.
41. In der darauffolgenden Woche legte die Präsidentschaft einen unveränderten Text u. a. auch für Art. 3 Abs. 1 Buchst. b vor. Sie forderte die Delegationen jedoch auf, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, in das Protokoll der Ratstagung eine Erklärung der Mitgliedstaaten zum damaligen Art. 19 (mit der Überschrift „Bericht“) aufzunehmen, mit dem der Kommission aufgetragen wurde, sich bei der Erstellung des mit dem genannten Artikel vorgesehenen Berichts insbesondere auf die mögliche Ausweitung des Anwendungsbereichs auf Flüge von in Drittländern gelegenen Flughäfen in die Gemeinschaft zu konzentrieren.
42. Im Dezember 2002 erzielte der Rat eine politische Einigung über seinen gemeinsamen Standpunkt zu dem Verordnungsentwurf, und die Anregung einer Eintragung in das Protokoll der Ratstagung floss in einen entsprechend geänderten Wortlaut von Art. 19 ein. Gemäß der Verordnung in der endgültigen Fassung erstattet die Kommission „insbesondere über Folgendes [Bericht]: … die mögliche Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Verordnung auf Fluggäste, die in Vertragsbeziehung mit einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft stehen oder eine Buchung für einen Flug als Teil einer Pauschalreise besitzen … und die von einem Flughafen in einem Drittland einen Flug zu einem Flughafen in einem Mitgliedstaat antreten, der nicht von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft durchgeführt wird“.
43. Vor diesem Hintergrund vermag ich mich nicht der Auffassung anzuschließen, Art. 3 Abs. 1 sei dahin auszulegen, dass sich der Schutz auch auf Fluggäste auf einem Rückflug erstreckt, der von einem Luftfahrtunternehmen, das kein solches der Gemeinschaft ist, aus einem Drittland in einen Mitgliedstaat ausgeführt wird.
44. Im Allgemeinen trifft es zwar zu, dass im Umgang mit den Materialien Vorsicht geboten ist. Außerdem spielt der Rückgriff auf sie im Vergleich zu anderen Auslegungsmethoden eine nachrangige Rolle. Trotzdem hat der Gerichtshof sie gelegentlich als Hilfsmittel herangezogen, wenn es darum ging, den Willen des Gesetzgebers festzustellen, vor allem, wenn sie ein bereits auf anderem Wege ermitteltes Auslegungsergebnis bestätigen.
45. Ich füge dem nur noch hinzu, dass nach der von Dr. Schenkel befürworteten Auslegung des jetzigen Art. 3 Abs. 1 Buchst. a die meisten (nicht alle) „Fluggäste, die in Vertragsbeziehung mit einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft stehen oder eine Buchung für einen Flug als Teil einer Pauschalreise besitzen … und die von einem Flughafen in einem Drittland einen Flug zu einem Flughafen in einem Mitgliedstaat antreten, der nicht von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft durchgeführt wird“, bereits in den Anwendungsbereich der Verordnung einbezogen wären. Die vom Rat ausdrücklich eingefügte Berichtspflicht wäre dann größtenteils überflüssig.
Relevanz der gleichzeitigen Buchung von Hin- und Rückflug
46. Für das Wesen einer Ware oder einer Dienstleistung ist die Art und Weise, wie sie erworben wird, in der Regel ohne Belang. Mir leuchtet daher nicht unmittelbar ein, warum die Buchungsmodalitäten für den Hin- und Rückflug für die Beantwortung der Frage erheblich sein sollen, ob eine Hin- und Rückreise als ein einziger „Flug“ anzusehen ist, der von dem Flughafen abgeht, auf dem die Reise begonnen hat. Im Rahmen eines einzigen Geschäftsvorgangs kann man (z. B.) mehrere Einfachreisen, eine oder mehrere (verschiedene) Hin- und Rückreisen und sogar einen Pauschalflugschein erwerben, der einen Beförderungsanspruch für mehrere Flüge verleiht.
47. Das vorlegende Gericht und Dr. Schenkel sind jedoch der Auffassung, aus dem Übereinkommen von Montreal ergebe sich, dass eine als ein Vorgang gebuchte Hin- und Rückreise als ein einziger Flug zu gelten habe. Nach Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal findet eine „internationale Beförderung“ statt, wenn nach den Vereinbarungen der Parteien der Abgangsort und der Bestimmungsort entweder a) in den Hoheitsgebieten zwei verschiedener Vertragsstaaten liegen oder b) wenn diese Orte zwar im Hoheitsgebiet nur eines Vertragsstaats liegen, aber eine Zwischenlandung im Hoheitsgebiet eines anderen Staates vorgesehen ist. Das Übereinkommen lässt damit zwangsläufig die Möglichkeit einer Zwischenlandung unterwegs zu. Art. 1 Abs. 3 bestimmt, dass eine Beförderung zum Bestimmungsort, die von mehreren aufeinanderfolgenden Luftfahrtunternehmen auszuführen ist, „als eine einzige Beförderung [gilt], sofern sie von den Parteien als einheitliche Leistung vereinbart worden ist“.
48. Für die Ansicht, dass im Rahmen des Warschauer Abkommens von 1929 (der Vorgängerübereinkunft des Übereinkommens von Montreal) bei einem Vertrag über eine internationale Beförderung für eine Hin- und Rückreise der Bestimmungsort dieser Reise der Abgangsort ist, sprechen einige nationale Urteile (vor allem, aber nicht nur, aus dem Rechtsraum des Common Law).
49. Die Gemeinschaft ist zwar Unterzeichner des Übereinkommens von Montreal und an das Übereinkommen gebunden, jedoch handelt es sich bei der Verordnung Nr. 261/2004 nicht um eine Gemeinschaftsmaßnahme zur Durchführung des Übereinkommens. Die Verordnung besteht vielmehr parallel zu diesem. In der Verordnung Nr. 261/2004 wird das Übereinkommen einmal nebenbei erwähnt (in den Erwägungsgründen). Dies steht in auffälligem Gegensatz zur Verordnung Nr. 2027/97 in der geänderten Fassung, mit der bestimmte Teile des Übereinkommens umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2027/97 entsprechen die darin verwendeten, aber nicht definierten Begriffe den im Übereinkommen verwendeten Begriffen.
50. Ich stimme auch insbesondere Emirates, Polen und Schweden darin zu, dass zwischen dem Übereinkommen von Montreal und der Verordnung Nr. 261/2004 deutliche Unterschiede bestehen. Vor allem wird der Begriff „internationale Beförderung“, der in Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens definiert ist und von verschiedenen nationalen Gerichten ausgelegt wurde, in der Verordnung nicht verwendet.
51. Meines Erachtens darf man die im Übereinkommen von Montreal verwendeten (abweichenden) Begriffe nicht dazu heranziehen, den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 261/2004 deutlich anders festzulegen, als sich aus ihrem Wortlaut und den Materialien ergibt.
52. Das vorlegende Gericht und Dr. Schenkel machen ferner geltend, dass das durch die Verordnung Nr. 261/2004 gewährte Schutzniveau für Fluggäste hinter dem des Übereinkommens von Montreal zurückbliebe, wenn der Begriff „Flug“ in der Verordnung nicht eine Hin- und Rückreise umfasste, die als ein Vorgang gebucht werde. Dies liefe – so das Argument – dem ausdrücklichen Ziel der Verordnung zuwider, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.
53. Dieser Argumentation schließe ich mich nicht an.
54. Erstens unterscheidet sich der Anwendungsbereich der Verordnung von dem des Übereinkommens. In vielerlei Hinsicht erstreckt sich die Verordnung auf Sachverhalte, die vom Übereinkommen nicht erfasst werden. Beispielsweise gilt die Verordnung für reine Inlandsflüge innerhalb eines Mitgliedstaats und für Flüge von einem Mitgliedstaat in ein Drittland, das kein Unterzeichnerstaat des Übereinkommens ist. Im Gegensatz zum Übereinkommen erfasst die Verordnung auch Nichtbeförderungen und die Annullierung von Flügen. Umgekehrt ist ihr Anwendungsbereich territorial begrenzt. Sie gilt nicht für Flüge zwischen zwei Ländern, die Unterzeichnerstaaten des Übereinkommens, nicht aber Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sind.
55. Angesichts dessen lässt sich meiner Meinung nach die Aussage, dass das durch die Verordnung insgesamt vorgesehene Schutzniveau in jedem Fall niedriger als das des Übereinkommens sei, nicht damit begründen, dass ein bestimmter Sachverhalt allein vom Übereinkommen erfasst werde.
56. Zweitens stellt die Verordnung Nr. 261/2004 eine Ergänzung des durch das Übereinkommen gewährten Fluggastschutzes dar. Sie ist kein Ersatz für das Übereinkommen. Dies ergibt sich aus Art. 12 der Verordnung, in dem es ausdrücklich heißt, dass sie „unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes“ gilt.
57. Im Urteil IATA hat der Gerichtshof entschieden, dass Flugverspätungen generell zu zwei Arten von Schäden führen können, die auf jeweils unterschiedliche Weise wiedergutzumachen sind. Zu der ersten Art gehören Schäden, die für alle Fluggäste gleich sind. Zu der zweiten Art gehören Schäden, die für jeden Fluggast individuell verschieden sind und daher einen nachträglichen und individualisierten Ausgleich erfordern. Das Übereinkommen deckt die zweite Art von Schäden ab, während die Verordnung standardisierte sofortige Ausgleichsleistungen für Schäden der ersten Art bietet. Die Regelung der Verordnung „tritt somit schlicht neben die des Übereinkommens von Montreal“. Die in der Verordnung vorgesehenen Leistungen bei Flugverspätungen „selbst stehen im Übrigen dem nicht entgegen, dass Fluggäste … unter den im [Übereinkommen] vorgesehenen Voraussetzungen Klage auf Ersatz [des] Schadens erheben können“. Vielmehr „[verbessern sie] den Schutz der Interessen der Fluggäste und die Voraussetzungen …, unter denen der Grundsatz der Wiedergutmachung für Fluggäste gilt“.
58. Der Schutz, den die Verordnung bei Flugverspätungen gewährt, ist also ergänzender Natur. Das muss erst recht für Ausgleichs- und andere Leistungen bei Annullierung von Flügen oder im Fall der Nichtbeförderung gelten. Bei solchen Zwischenfällen gewährt das Übereinkommen den Fluggästen keinerlei Schutz.
59. Demnach kann ich mich nicht der Argumentation anschließen, dass der Schutzbereich der Verordnung hinter dem des Übereinkommens zurückbliebe, wenn sie nicht in einer Weise ausgelegt wird, die ihrem klaren Wortlaut, den Materialien und ihrem erklärten Zweck zuwiderläuft.
Ergebnis
60. Ich schlage daher dem Gerichtshof vor, die Frage des vorlegenden Gerichts wie folgt zu beantworten:
Fluggäste auf einem Rückflug von einem Drittland in einen Mitgliedstaat sind selbst dann, wenn Hin- und Rückflug gleichzeitig gebucht wurden, keine „Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats … einen Flug antreten“, im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 und fallen somit nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung, wenn das den betreffenden Flug ausführende Luftfahrtunternehmen kein solches der Gemeinschaft ist.