Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen vom 14. März 2013 (Rechtssache C‑509/11)
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NIILO JÄÄSKINEN
vom 14. März 2013
Rechtssache C‑509/11
ÖBB-Personenverkehr AG
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])
„Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr – Art. 17 – Voraussetzungen der Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen, verpassten Anschlüssen und Zugausfällen – Ausschluss der Entschädigung für Verspätungen aufgrund von höherer Gewalt – Art. 30 – Befugnisse der für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 1371/2007 zuständigen nationalen Stelle – Frage, ob Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007 die nationale Stelle ermächtigt, ein Eisenbahnunternehmen anzuweisen, mit der Verordnung Nr. 1371/2007 nicht im Einklang stehende Entschädigungsbedingungen abzuändern – Rechtswirkungen von Verordnungen der Europäischen Union – Grundsatz der praktischen Wirksamkeit – Bedeutung des Begriffs ‚Gericht‘ in Art. 267 AEUV – Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Rechte und Pflichten der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten zur Gewährung von Rechtsschutz im Vergleich zu den Gerichten der Mitgliedstaaten“
I – Einleitung
1. Die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (im Folgenden: Verordnung Nr. 1371/2007) sieht u. a. vereinheitlichte Regeln über die Haftung von Eisenbahnunternehmen bei Verspätungen, verpassten Anschlüssen und Zugausfällen vor. Der vorliegende Fall betrifft konkret eine Klage eines Eisenbahnunternehmens, das geltend macht, es sei von der Fahrpreisentschädigung befreit, wenn eine Verspätung, ein verpasster Anschluss oder ein Zugausfall durch höhere Gewalt verursacht worden sei.
2. Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007, die zentrale Bestimmung für Fahrpreisentschädigungen in der Verordnung, erwähnt höhere Gewalt nicht. Der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) möchte gleichwohl wissen, ob sich eine Haftungsbeschränkung in Fällen, in denen Fahrgäste eine Fahrpreisentschädigung verlangen können, anderweitig herleiten lässt. Er weist darauf hin, dass Umstände, die außerhalb der Kontrolle der Verkehrsunternehmen liegen, nach (i) Art. 32 Abs. 2 der einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck (CIV) und (ii) den Vorschriften dreier anderer, möglicherweise analog anwendbarer Verordnungen über Fahrgastrechte in anderen Verkehrssektoren, nämlich Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004, Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 181/2011, ihre Haftung für eine Entschädigung beschränkten.
3. Wird höhere Gewalt verneint, rückt in dem Rechtsstreit eine komplexere Frage in den Blickpunkt, eine Frage, die für den umfassenderen Rahmen des Verwaltungsrechts der Union relevant ist, nämlich die Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Verwaltungsbehörden für Anordnungen, mit denen die wirksame Durchsetzung einer Verordnung sichergestellt werden soll.
4. Zu prüfen sind die Befugnisse der für die Anwendung der Verordnung Nr. 1371/2007 benannten nationalen Einrichtung, da sie nach den einschlägigen Vorschriften des österreichischen Rechts die im Tarif eines Eisenbahnunternehmens enthaltenen Entschädigungsbedingungen, falls sie mit der Verordnung Nr. 1371/2007 unvereinbar sind, nur für unwirksam erklären kann. Die Einrichtung hat keine darüber hinausgehende Befugnis, wie etwa die, eine Anordnung auszusprechen, mit der das Eisenbahnunternehmen angewiesen wird, seine Verträge abzuändern, damit gewährleistet ist, dass eine Fahrpreisentschädigung im Einklang mit Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 gezahlt wird. Der Verwaltungsgerichtshof stellt sich jedoch die Frage, ob diese Befugnis Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007, der die Durchsetzung betrifft, entnommen werden könnte. Diese Frage führt deshalb notwendigerweise zur Prüfung der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die der Gerichtshof zur praktischen Wirksamkeit, zu nationalen Rechtsbehelfen und dazu entwickelt hat, welche Arten mitgliedstaatlicher Stellen an sie gebunden sind.
5. Abschließend bedarf es einiger ergänzender Ausführungen zur Verpflichtung des Eisenbahnunternehmens nach der Verordnung Nr. 1371/2007 und zur Stellung des vorlegenden nationalen Verwaltungsgerichts in Bezug auf den unionsrechtlichen Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
6. Die Erwägungsgründe 6, 13 und 14 der Verordnung Nr. 1371/2007 lauten:
- „(6) Bei der Stärkung der Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr sollte das bereits bestehende einschlägige internationale Regelwerk im Anhang A – Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck (CIV) zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980, geändert durch das Protokoll vom 3. Juni 1999 betreffend die Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 3. Juni 1999 (Protokoll 1999) – zugrunde gelegt werden. Es ist jedoch wünschenswert, den Anwendungsbereich dieser Verordnung auszuweiten und nicht nur die Fahrgäste im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr, sondern auch die Fahrgäste im inländischen Eisenbahnverkehr zu schützen.
- …
- (13) Die Stärkung der Rechte auf Entschädigung und Hilfeleistung bei Verspätungen, verpassten Anschlüssen oder Zugausfällen sollte auf dem Markt für Schienenpersonenverkehrsdienste zu größeren Anreizen zum Nutzen der Fahrgäste führen.
- (14) Es ist wünschenswert, dass durch diese Verordnung ein System für die Entschädigung von Fahrgästen bei Verspätungen geschaffen wird, das mit der Haftung des Eisenbahnunternehmens verknüpft ist und auf der gleichen Grundlage beruht wie das internationale System, das im Rahmen des COTIF, insbesondere in dessen Anhang betreffend die Fahrgastrechte (CIV), besteht.“
7. Art. 6 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1371/2007 sieht vor:
„Ausschluss des Rechtsverzichts und der Rechtsbeschränkung
- (1) Die Verpflichtungen gegenüber Fahrgästen gemäß dieser Verordnung dürfen – insbesondere durch abweichende oder einschränkende Bestimmungen im Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.
- (2) Die Eisenbahnunternehmen können Vertragsbedingungen anbieten, die für den Fahrgast günstiger sind als die in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen.“
8. Art. 15 der Verordnung Nr. 1371/2007 bestimmt:
„Haftung für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle
Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels ist die Haftung der Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle in Anhang I Titel IV Kapitel II geregelt.“
9. Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 bestimmt:
„Fahrpreisentschädigung
- (1) Ohne das Recht auf Beförderung zu verlieren, kann ein Fahrgast bei Verspätungen vom Eisenbahnunternehmen eine Fahrpreisentschädigung verlangen, wenn er zwischen dem auf der Fahrkarte angegebenen Abfahrts- und Zielort eine Verspätung erleidet, für die keine Fahrpreiserstattung nach Artikel 16 erfolgt ist. Die Mindestentschädigung bei Verspätungen beträgt
- a) 25 % des Preises der Fahrkarte bei einer Verspätung von 60 bis 119 Minuten;
- b) 50 % des Preises der Fahrkarte ab einer Verspätung von 120 Minuten.
Fahrgäste, die eine Zeitfahrkarte besitzen und denen während der Gültigkeitsdauer ihrer Zeitfahrkarte wiederholt Verspätungen oder Zugausfälle widerfahren, können angemessene Entschädigung gemäß den Entschädigungsbedingungen des Eisenbahnunternehmens verlangen. In den Entschädigungsbedingungen werden die Kriterien zur Bestimmung der Verspätung und für die Berechnung der Entschädigung festgelegt.
Die Entschädigung für eine Verspätung wird im Verhältnis zu dem Preis berechnet, den der Fahrgast für den verspäteten Verkehrsdienst tatsächlich entrichtet hat.
Wurde der Beförderungsvertrag für eine Hin- und Rückfahrt abgeschlossen, so wird die Entschädigung für eine entweder auf der Hin- oder auf der Rückfahrt aufgetretene Verspätung auf der Grundlage des halben entrichteten Fahrpreises berechnet. In gleicher Weise wird der Preis für einen verspäteten Verkehrsdienst, der im Rahmen eines sonstigen Beförderungsvertrags mit mehreren aufeinanderfolgenden Teilstrecken angeboten wird, anteilig zum vollen Preis berechnet.
Verspätungen, für die das Eisenbahnunternehmen nachweisen kann, dass sie außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft eingetreten sind, werden bei der Berechnung der Verspätungsdauer nicht berücksichtigt.
- (2) Die Zahlung der Entschädigung erfolgt innerhalb von einem Monat nach Einreichung des Antrags auf Entschädigung. Die Entschädigung kann in Form von Gutscheinen und/oder anderen Leistungen erfolgen, sofern deren Bedingungen (insbesondere bezüglich des Gültigkeitszeitraums und des Zielorts) flexibel sind. Die Entschädigung erfolgt auf Wunsch des Fahrgasts in Form eines Geldbetrags.
- (3) Der Entschädigungsbetrag darf nicht um Kosten der Finanztransaktion wie Gebühren, Telefonkosten oder Porti gekürzt werden. Die Eisenbahnunternehmen dürfen Mindestbeträge festlegen, unterhalb deren keine Entschädigungszahlungen vorgenommen werden. Dieser Mindestbetrag darf höchstens 4 EUR betragen.
- (4) Der Fahrgast hat keinen Anspruch auf Entschädigung, wenn er bereits vor dem Kauf der Fahrkarte über eine Verspätung informiert wurde oder wenn bei seiner Ankunft am Zielort eine Verspätung aufgrund der Fortsetzung der Reise mit einem anderen Verkehrsdienst oder mit geänderter Streckenführung weniger als 60 Minuten beträgt.“
10. Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007 sieht vor:
„Durchsetzung
- (1) Jeder Mitgliedstaat benennt eine oder mehrere für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständige Stellen. Jede dieser Stellen ergreift die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Rechte der Fahrgäste gewahrt werden.
Jede Stelle ist in Aufbau, Finanzierung, Rechtsstruktur und Entscheidungsfindung von den Betreibern der Infrastruktur, den Entgelt erhebenden Stellen, den Zuweisungsstellen und den Eisenbahnunternehmen unabhängig.
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die gemäß diesem Absatz benannte Stelle oder benannten Stellen und ihre jeweiligen Zuständigkeiten mit.
- (2) Jeder Fahrgast kann bei der geeigneten nach Absatz 1 benannten Stelle oder jeder anderen geeigneten von einem Mitgliedstaat benannten Stelle Beschwerde über einen mutmaßlichen Verstoß gegen diese Verordnung einreichen.“
11. Art. 32 der Verordnung Nr. 1371/2007 bestimmt:
„Sanktionen
Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen diese Verordnung Sanktionen fest und treffen die zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission diese Vorschriften und Maßnahmen bis zum 3. Juni 2010 mit und melden ihr spätere Änderungen unverzüglich.“
12. Anhang I der Verordnung enthält einen Auszug aus den CIV, die in Anhang A zum COTIF vom 9. Mai 1980, geändert durch das Protokoll vom 3. Juni 1999 betreffend die Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr, niedergelegt sind.
13. Art. 32 CIV in Anhang I der Verordnung Nr. 1371/2007 bestimmt:
„Haftung bei Ausfall, Verspätung und Anschlussversäumnis
- (1) Der Beförderer haftet dem Reisenden für den Schaden, der dadurch entsteht, dass die Reise wegen Ausfall, Verspätung oder Versäumnis des Anschlusses nicht am selben Tag fortgesetzt werden kann oder dass unter den gegebenen Umständen eine Fortsetzung am selben Tag nicht zumutbar ist. Der Schadensersatz umfasst die dem Reisenden im Zusammenhang mit der Übernachtung und mit der Benachrichtigung der ihn erwartenden Personen entstandenen angemessenen Kosten.
- (2) Der Beförderer ist von dieser Haftung befreit, wenn der Ausfall, die Verspätung oder das Anschlussversäumnis auf eine der folgenden Ursachen zurückzuführen ist:
- a) außerhalb des Eisenbahnbetriebes liegende Umstände, die der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und deren Folgen er nicht abwenden konnte,
- b) Verschulden des Reisenden oder
- c) Verhalten eines Dritten, das der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen er nicht abwenden konnte; ein anderes Unternehmen, das dieselbe Eisenbahninfrastruktur benutzt, gilt nicht als Dritter; Rückgriffsrechte bleiben unberührt.
- (3) Ob und inwieweit der Beförderer für andere als die in Absatz 1 vorgesehenen Schäden Ersatz zu leisten hat, richtet sich nach Landesrecht. Artikel 44 bleibt unberührt.“
B – Nationales Recht
14. Die durch das Bundesgesetz zur Verordnung Nr. 1371/2007 (BGBl. I Nr. 25/2010) eingefügten §§ 22a, 78a Abs. 2 und 3, 78b Abs. 2 und 167 Abs. 1 des Eisenbahngesetzes 1957 (EisbG) lauten, soweit sie für den vorliegenden Fall relevant sind:
„Entschädigungsbedingungen
§ 22a (1) Die Tarife für die Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen auf Hauptbahnen und vernetzten Nebenbahnen haben auch Entschädigungsbedingungen jeweils zur Anwendung der Regelungen über die Fahrpreisentschädigung gemäß § 2 des Bundesgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, BGBl. I Nr. 25/2010, und gemäß Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. Nr. L 135 vom 3.12.2007 S 14, zu enthalten.
…
Schlichtungsstelle
§ 78a (1) …
- (2) Unbeschadet der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte oder der Behörden können Gebietskörperschaften, Interessenvertretungen und Fahrgäste Beschwerden wegen behaupteter Verstöße gegen anzuwendende Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 und wegen behaupteter unrichtiger oder für die Fahrgäste unzumutbarer Regelungen in den Entschädigungsbedingungen gemäß § 22a bei der Schienen-Control GmbH erheben.
- (3) Die Schienen-Control GmbH hat sich sowohl zu Beschwerden gemäß Abs. 1 als auch zu Beschwerden gemäß Abs. 2 um eine einvernehmliche Lösung zwischen den Beteiligten zu bemühen. Ansonsten hat sie den Beteiligten ihre Ansicht mitzuteilen und kann eine Empfehlung, die nicht verbindlich und nicht anfechtbar ist, zur Regelung der Angelegenheit abgeben. Die Schienen-Control GmbH hat in einer Richtlinie eine Verfahrensweise gemäß Abs. 1 und Abs. 2 festzulegen und auf ihrer Internetseite zu veröffentlichen. Betroffene Unternehmen haben mitzuwirken und nach Anforderung durch die Schienen-Control GmbH alle zur Beurteilung des beschwerderelevanten Sachverhaltes erforderlichen Auskünfte zu erteilen und Unterlagen vorzulegen.
…
Unwirksamkeit der Entschädigungsbedingungen
§ 78b (1) …
(2) Die Schienen-Control Kommission hat von Amts wegen:
- 1. …
- 2. die Entschädigungsbedingungen nach der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 ganz oder teilweise für unwirksam zu erklären, wenn sie das Eisenbahnunternehmen nicht nach den Kriterien des Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 festsetzt.
…
§ 167 Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe bis zu 2 180 Euro zu bestrafen,
- 1. wer keine Entschädigungsbedingungen gemäß § 22a Abs. 1 veröffentlicht,
…“
III – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
15. Die ÖBB-Personenverkehr AG, die Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgerichtshof, ist ein Eisenbahnunternehmen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007.
16. Die ÖBB-Personenverkehr AG wendet in ihren Tarifen für die Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen allgemeine Geschäftsbedingungen an, die Regelungen zur Fahrpreisentschädigung in den in Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 aufgeführten Fällen enthalten (im Folgenden: Entschädigungsbedingungen).
17. Die Schienen-Control Kommission verpflichtete die ÖBB-Personenverkehr AG mit Bescheid vom 6. Dezember 2010 zur Änderung ihrer Bedingungen für Fahrpreisentschädigungen. Konkret gab sie der ÖBB-Personenverkehr AG auf, die Bestimmung zu streichen, nach der ein Anspruch auf Entschädigung oder Ersatz von Kosten aufgrund von Zugverspätungen in folgenden Fällen nicht besteht:
- bei Verschulden des Reisenden;
- bei Verhalten eines Dritten, das der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage des Falles notwendigen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen er nicht abwenden konnte;
- bei Vorliegen eines außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegenden Umstands, den der Beförderer trotz Anwendung der nach Lage des Falles notwendigen Sorgfalt nicht vermeiden und dessen Folgen er nicht abwenden konnte;
- bei Verkehrsbeschränkungen infolge Streiks, wenn der Reisende hierüber angemessen informiert wurde;
- wenn die Verspätung auf Verkehrsleistungen zurückzuführen ist, die nicht Teil des Beförderungsvertrags sind.
18. Die ÖBB-Personenverkehr AG focht den Bescheid der Schienen-Control Kommission vor dem Verwaltungsgerichtshof an. Sie machte im Wesentlichen geltend, die Schienen-Control Kommission sei aufgrund der durch § 78b Abs. 2 EisbG auferlegten Grenzen nicht befugt, eine Änderung ihrer Vertragsbedingungen anzuordnen. Nach den Angaben im Vorlagebeschluss machte die ÖBB-Personenverkehr AG weiter geltend, der Ausschluss der Entschädigung in Fällen höherer Gewalt sei von der Verordnung Nr. 1371/2007 gedeckt und zudem sei das Recht, sich auf höhere Gewalt zu berufen, als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anerkannt.
19. Der Verwaltungsgerichtshof war der Ansicht, er müsse, um eine Entscheidung treffen zu können, erstens die Reichweite der Befugnisse der gemäß Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007 für die Durchsetzung dieser Verordnung zu errichtenden Stelle bestimmen und zweitens klären, ob ein Eisenbahnunternehmen in Fällen höherer Gewalt eine Fahrpreisentschädigung im Sinne von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 verweigern dürfe.
20. Vor diesem Hintergrund sind dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt worden:
- 1. Ist Art. 30 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung benannte nationale Stelle befugt ist, einem Eisenbahnunternehmen, dessen Entschädigungsbedingungen für die Fahrpreisentschädigung nicht den in Art. 17 dieser Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, den konkreten Inhalt der von diesem Eisenbahnunternehmen zu verwendenden Entschädigungsbedingungen verbindlich vorzuschreiben, auch wenn das nationale Recht ihr lediglich die Möglichkeit einräumt, derartige Entschädigungsbedingungen für unwirksam zu erklären?
- 2. Ist Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen, dass ein Eisenbahnunternehmen die Verpflichtung zur Leistung von Fahrpreisentschädigungen in Fällen höherer Gewalt ausschließen darf, dies entweder in analoger Anwendung der in den Verordnungen Nr. 261/2004, Nr. 1177/2010 oder Nr. 181/2011 vorgesehenen Ausschlussgründe oder durch Heranziehung der Haftungsbefreiungen, wie sie in Art. 32 Abs. 2 der einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck (CIV, Anhang I zur Verordnung) enthalten sind, auch für Fälle der Fahrpreisentschädigung?
- 21. Schriftliche Erklärungen haben die ÖBB-Personenverkehr AG, die Schienen-Control Kommission, die deutsche, die österreichische und die schwedische Regierung sowie die Kommission eingereicht. An der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2012 haben die Prozessbevollmächtigten der ÖBB-Personenverkehr AG, der Schienen-Control Kommission, der deutschen und der italienischen Regierung sowie der Kommission teilgenommen.
- 22. Ich werde mit der Beantwortung der zweiten Frage beginnen, da ihre Beantwortung Auswirkung auf die erste Frage haben wird und da die zweite Frage von breiterem Interesse für das Unionsrecht über Beförderung und Verbraucherschutz ist. Die zweite Frage betrifft die Problematik der höheren Gewalt insofern, als sie die Prüfung erforderlich macht, ob die ÖBB-Personenverkehr AG bei richtiger Auslegung von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 berechtigt ist, eine auf diese Bestimmung gestützte Haftungsbeschränkung in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Verkauf von Eisenbahnfahrscheinen vorzusehen. Wäre die zweite Frage zu bejahen, würde die erste Frage hypothetisch, weil die Maßnahme, die die Schienen-Control Kommission in vermeintlicher Ausübung ihrer aus Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007 abgeleiteten Befugnisse ergriffen hat, zwangsläufig mit einer Auslegung von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007, wonach Eisenbahnunternehmen von der Zahlung einer Fahrpreisentschädigung in einem Fall höherer Gewalt befreit wären, unvereinbar wäre.
IV – Analyse
A – Beantwortung der zweiten Frage
23. Ich weise vorab darauf hin, dass es im Wortlaut der Verordnung Nr. 1371/2007 keinen Anhaltspunkt für eine Beschränkung der Haftung von Eisenbahnunternehmen nach Art. 17 hinsichtlich der Erstattung des Fahrpreises in einem Fall von höherer Gewalt gibt. Wie das vorlegende nationale Gericht jedoch in der zweiten Frage hervorhebt, könnte sich eine solche Möglichkeit entweder durch eine analoge Anwendung der in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, in Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1177/2010 und in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 181/2011 vorgesehenen Ausschlussgründe ergeben oder durch Heranziehung der Ausschlussgründe in Art. 32 Abs. 2 CIV, der im Anhang der Verordnung Nr. 1371/2007 enthalten und damit Teil von ihr ist und der auch Entschädigungen für unvorhergesehene Unterbrechungen von Eisenbahnreisen betrifft. Wie bereits erwähnt, hat die ÖBB-Personenverkehr AG zudem geltend gemacht, dass höhere Gewalt ein im Unionsrecht anerkannter allgemeiner Rechtsgrundsatz sei.
1. Zu Art. 32 Abs. 2 CIV
24. Was Art. 32 Abs. 2 CIV betrifft, verknüpft die Verordnung Nr. 1371/2007 meines Erachtens – anders als die Kommission, die ÖBB-Personenverkehr AG und Deutschland in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben – die Verantwortlichkeit von Eisenbahnunternehmen nach Art. 17 für die Erstattung des Fahrpreises nicht mit den Entschädigungsregelungen des Art. 32 CIV im Anhang der Verordnung Nr. 1371/2007.
25. Wie in den schriftlichen Erklärungen Schwedens zu Art. 32 Abs. 2 CIV ausgeführt worden ist, befreien außerhalb der Kontrolle der Beförderer liegende Umstände diese von der Haftung für Schäden der in Art. 32 Abs. 1 genannten Art und nur für derartige Schäden. Diese bestehen in den „dem Reisenden im Zusammenhang mit der Übernachtung und mit der Benachrichtigung der ihn erwartenden Personen entstandenen angemessenen Kosten“, sofern der Schaden dadurch entsteht, dass der Reisende die Reise wegen Ausfall, Verspätung oder Versäumnis des Anschlusses nicht am selben Tag fortsetzen kann oder dass ihre Fortsetzung am selben Tag nicht zumutbar ist.
26. Mithin findet die Klausel über höhere Gewalt in Art. 32 Abs. 2 CIV als Beschränkung der Pflicht Anwendung, Fahrgästen im Eisenbahnverkehr die in Art. 32 Abs. 1 genannten Schäden zu ersetzen, zu denen der für eine verspätete oder ausgefallene Dienstleistung gezahlte Fahrpreis nicht gehört. Art. 32 Abs. 1 bezieht sich nur auf die Übernachtungs- und Benachrichtigungskosten.
27. Ich stimme daher dem Ansatz in den schriftlichen Erklärungen Schwedens zu, in denen dargelegt worden ist, dass jede Beschränkung einer Entschädigung für den Fahrpreis im Verspätungsfall, wie sie Art. 17 der Verordnung vorschreibt, dort abschließend geregelt sei. Art. 17 Abs. 1 beschränkt die Haftung des Eisenbahnunternehmens dadurch, dass er bestimmt, dass „Verspätungen, für die das Eisenbahnunternehmen nachweisen kann, dass sie außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft eingetreten sind, … bei der Berechnung der Verspätungsdauer nicht berücksichtigt [werden]“. Art. 17 Abs. 4 sieht darüber hinaus vor, dass kein Anspruch auf Entschädigung besteht, wenn der Fahrgast „bereits vor dem Kauf der Fahrkarte über eine Verspätung informiert wurde oder wenn bei seiner Ankunft am Zielort eine Verspätung aufgrund der Fortsetzung der Reise mit einem anderen Verkehrsdienst oder mit geänderter Streckenführung weniger als 60 Minuten beträgt“.
28. Fehl geht meines Erachtens das Vorbringen Deutschlands, der ÖBB-Personenverkehr AG und der Kommission, dass die CIV und insbesondere deren Art. 32 Abs. 2 aufgrund des 14. Erwägungsgrundes und von Art. 15 der Verordnung Nr. 1371/2007 einschlägig seien. Art. 15 bestimmt unter der Überschrift „Haftung für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle“, dass vorbehaltlich „der Bestimmungen dieses Kapitels … die Haftung der Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle in Anhang I Titel IV Kapitel III geregelt [ist]“, während es im 14. Erwägungsgrund als „wünschenswert“ bezeichnet wird, dass durch die Verordnung Nr. 1371/2007 ein Entschädigungssystem geschaffen wird, das auf der gleichen Grundlage beruht wie u. a. die CIV. Die Worte „[v]orbehaltlich … dieses Kapitels“ ordnen Art. 15 und damit die CIV jedoch den in Art. 17 enthaltenen ausdrücklichen Regeln unter. Zudem kann ich mich einer Auslegung des 14. Erwägungsgrundes nicht anschließen, durch die unter Rückgriff auf die CIV das von der Verordnung Nr. 1371/2007 – sei es in Art. 17 oder an anderer Stelle – gebotene Schutzniveau vermindert würde.
29. Darüber hinaus verweist Art. 32 Abs. 3 CIV für die Frage der Fahrpreiserstattung auf nationales Recht zurück, was im vorliegenden Fall als Bezugnahme auf Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 zu verstehen ist. Art. 32 Abs. 3 CIV bestimmt: „Ob und inwieweit der Beförderer für andere als die in Absatz 1 vorgesehenen Schäden Ersatz zu leisten hat, richtet sich nach Landesrecht. Artikel 44 bleibt unberührt.“
30. Zu „andere[n] als [den] in [Art. 32] Absatz 1 vorgesehenen Schäden“ gehören eindeutig Fahrpreiserstattungen. Dies wird in den Erläuternden Bemerkungen zu den CIV indirekt eingeräumt. In Nr. 3 der Erläuterungen zur Art. 32 heißt es, dass aus der Sicht der Kundschaft die (in Art. 32 Abs. 1) gefundene Lösung nach wie vor unbefriedigend erscheinen müsse, da Verspätungen im Reiseverkehr eine typische Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags darstellten. Erwähnt wird ferner, dass in zahlreichen Rechtsordnungen eine Schlechterfüllung des Vertrags zur Minderung der Gegenleistung berechtige, d. h., im Fall von Beförderungsverträgen mit Eisenbahnfahrgästen, des Beförderungsentgelts. Mit anderen Worten überlassen es die CIV dem nationalen Recht, die Problematik der Fahrpreiserstattung zu regeln, was bedeutet, dass sie aus dem Anwendungsbereich der Ausnahme im Fall höherer Gewalt nach Art. 32 Abs. 2 CIV herausfällt.
2. Höhere Gewalt als allgemeiner Rechtsgrundsatz
31. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs kann, wenn wie im vorliegenden Rechtsstreit eine besondere gesetzliche Bestimmung fehlt, „ein Fall höherer Gewalt nur anerkannt werden, wenn sich der Betroffene auf eine äußere Ursache berufen kann, deren Folgen unvermeidbar und unausweichlich sind und ihm die Einhaltung seiner Verpflichtungen objektiv unmöglich machen … Unter höherer Gewalt sind ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse zu verstehen, auf die der betroffene Wirtschaftsteilnehmer keinen Einfluss hatte und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können, so dass auch das Verhalten von Behörden je nach den Umständen einen Fall höherer Gewalt darstellen kann.“
32. Es ist jedoch wichtig, den Kontext in Erinnerung zu rufen, in dem höhere Gewalt im vorliegenden Fall eingewandt wird, bevor eine Beurteilung des oben angeführten allgemeinen Grundsatzes anhand des vorliegenden Sachverhalts erfolgt. Höhere Gewalt ist im Ausgangsverfahren nicht in einem der klassischen Zusammenhänge von Bedeutung, in denen sie bisher in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorkam, wie beispielsweise als Argument für die Verlängerung der nach Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs geltenden Klagefristen oder als zulässige Entschuldigung für die Nichterfüllung einer vertraglichen Verpflichtung oder bei der Auslegung spezieller Vorschriften des Unionsrechts, in denen höhere Gewalt oder vergleichbare Bedingungen geregelt sind. Im letztgenannten Zusammenhang hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass „die Bedeutung des Begriffs der höheren Gewalt, da er auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen ist, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll“.
33. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es vielmehr um eine recht neuartige Berufung auf das unionsrechtliche Konzept der höheren Gewalt. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz in Bezug auf höhere Gewalt bedeute, dass die Verordnung Nr. 1371/2007 oder zumindest deren Art. 17 in der Weise auszulegen sei, dass die ÖBB-Personenverkehr AG im Fall höherer Gewalt berechtigt sei, eine Fahrpreisentschädigung zu verweigern. Dieses Argument ist geltend gemacht worden, obwohl weder höhere Gewalt noch ihr vergleichbare Bedingungen in Art. 17 oder, wie bereits erläutert, an einer anderen Stelle der Verordnung Nr. 1371/2007, die für die Auslegung von Art. 17 bedeutsam ist, erwähnt werden.
34. Eine derartige Auslegung von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 halte ich im Licht der Ziele der Verordnung Nr. 1371/2007 als Instrument des Verbraucherschutzes für unmöglich.
35. So heißt es z. B. im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1371/2007 u. a., dass es wichtig ist, die Nutzerrechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr zu schützen, während im zweiten Erwägungsgrund darauf verwiesen wird, dass in der Mitteilung der Kommission „Verbraucherpolitische Strategie 2002-2006“ das Ziel festgelegt ist, ein hohes Verbraucherschutzniveau im Bereich des Verkehrs zu erreichen. Im dritten Erwägungsgrund wird hervorgehoben, dass die Rechte des Fahrgasts, da er die schwächere Partei eines Beförderungsvertrags ist, in dieser Hinsicht geschützt werden sollten, während der sechste Erwägungsgrund u. a. zur Stärkung der Rechte der Fahrgäste auffordert. Derselbe Rechtsgrundsatz liegt Art. 6 der Verordnung zugrunde, der den verbindlichen Charakter der Verpflichtungen aus dieser Verordnung gegenüber Fahrgästen festlegt.
36. Da die Verordnung Nr. 1371/2007 eine Maßnahme ist, die den Verbraucherschutz stärken soll, sind ihre Vorschriften im Fall einer Mehrdeutigkeit diesem Ziel entsprechend auszulegen. Das bedeutet, dass Beschränkungen der Haftung von Eisenbahnunternehmen eng anzuwenden sind und ihr Anwendungsbereich nicht durch eine für den Verbraucher nachteilige Auslegung erweitert werden darf. Im Übrigen schließt eben dieses Gebot jede Analogie zur Rolle der höheren Gewalt in Art. 32 Abs. 2 CIV, mit der ich mich oben in den Nrn. 24 bis 30 befasst habe, aus.
37. Darüber hinaus sind meiner Ansicht nach die Frage, was höhere Gewalt darstellt, sowie ihre Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Verbraucherschutzrecht primär durch den Gesetzgeber zu bestimmen. Wie oben angemerkt, muss die Bedeutung des Konzepts der höheren Gewalt im Unionsrecht dem rechtlichen Kontext Rechnung tragen, in dem es steht. Daher ist an den Unterschieden in den Rechtsvorschriften der Union mit Blick auf die Folgen höherer Gewalt nichts Ungewöhnliches; dies erklärt die in der Verordnung Nr. 1371/2007 getroffene Unterscheidung zwischen einer Entschädigung für den Fahrpreis nach Art. 17 und einer Entschädigung für Folgeschäden und Schäden, die durch die Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags des Fahrgasts verursacht wurden, nach den CIV-Bestimmungen in ihrem Anhang. Mit anderen Worten: Hätte der Unionsgesetzgeber die Anwendbarkeit von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 in Fällen höherer Gewalt beschränken wollen, wäre dies im Wortlaut der Verordnung klar zum Ausdruck gekommen.
38. Entgegen den Ausführungen von Deutschland in der mündlichen Verhandlung halte ich es nicht für inkonsistent, dass Fahrgäste in einem Fall höherer Gewalt, der eine lange Verspätung verursacht, keine Entschädigung für Übernachtungskosten beanspruchen können, aber den Anspruch auf Fahrpreiserstattung auch bei kürzeren Verspätungen behalten. Der Gesetzgeber mag es für angemessen gehalten haben, Eisenbahnunternehmen vor der Haftung für unvorhersehbare Entschädigungsansprüche in einem Fall höherer Gewalt zu schützen, während er es ihnen verwehrt, das volle Entgelt für eine Dienstleistung zu behalten, die sie nicht ordentlich erfüllen konnten. Dabei handelt es sich um eine politische Frage, nicht um Rechtslogik.
3. Analoge Anwendung der Regeln über höhere Gewalt in den Verordnungen Nrn. 261/2004, 1177/2010 und 181/2011
39. Ich kann auch den Argumenten nicht zustimmen, die die Kommission und die ÖBB-Personenverkehr AG dafür vorgetragen haben, dass Eisenbahnunternehmen ihre Verpflichtung zur Zahlung einer Fahrpreisentschädigung in Fällen höherer Gewalt mittels einer Analogie zu den in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1177/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 181/2011 in Bezug auf Flug-, Schiffs- und Busverkehr vorgesehenen Ausschlussgründen ausschließen könnten.
40. Ich erkenne an, dass, wie oben in Nr. 31 ausgeführt, das unionsrechtliche Konzept der höheren Gewalt „ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse“ betrifft. Im Rahmen von Beförderungsverträgen für Bahnreisende treten die häufigsten Fälle höherer Gewalt, nämlich schwierige Wetterverhältnisse, Beschädigungen der Eisenbahninfrastruktur und Arbeitsmarktkonflikte, de facto mit vorhersehbarer statistischer Regelmäßigkeit ein, auch wenn sie im Einzelfall nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden können. Das bedeutet, den Eisenbahnunternehmen ist im Vorhinein bekannt, dass mit ihrem Auftreten zu rechnen ist. Das bedeutet aber auch, dass sie bei der Berechnung des Fahrpreises berücksichtigt werden können.
41. Außerdem hat der Gerichtshof in diesem Jahr bereits entschieden, dass der Unionsgesetzgeber berechtigt ist, Vorschriften zu schaffen, die ein unterschiedliches Verbraucherschutzniveau vorsehen, je nachdem, welcher Verkehrssektor betroffen ist. Im Urteil McDonagh wies der Gerichtshof im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Anfechtung der Weigerung einer Fluggesellschaft, für die nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 erforderliche Betreuung angesichts der Flugausfälle nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull zu sorgen, das Vorbringen zurück, dass eine den Luftfahrtunternehmen auferlegte Betreuungspflicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen würde, weil eine solche Pflicht nicht für andere Beförderungsformen gelte, nämlich den Eisenbahnverkehr nach der Verordnung Nr. 1371/2007, den See- und Binnenschiffsverkehr nach der Verordnung Nr. 1177/2010 und den Kraftomnibusverkehr nach der Verordnung Nr. 181/2011. Zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung führte der Gerichtshof aus, dass die „jeweilige Lage der Unternehmen, die in den verschiedenen Verkehrssektoren tätig sind, … nicht miteinander vergleichbar [ist], da die einzelnen Beförderungsformen unter Berücksichtigung ihrer Funktionsweise, ihrer Zugänglichkeit und der Aufteilung ihrer Netze hinsichtlich der Bedingungen ihrer Benutzung nicht austauschbar sind“.
42. Demnach kann eine gerechte Risikoverteilung einer vertraglichen Regelung entgegenstehen, wonach ein Fahrgast eine Eisenbahndienstleistung, die aufgrund höherer Gewalt nicht ordnungsgemäß erbracht wurde, vollständig zu vergüten hätte.
43. Aus diesen Gründen schlage ich vor, die zweite Frage in dem Sinne zu beantworten, dass Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass ein Eisenbahnunternehmen seine Verpflichtung zur Zahlung einer Fahrpreisentschädigung in Fällen höherer Gewalt nicht ausschließen darf.
B – Beantwortung der ersten Frage
44. Mit der ersten Frage möchte der Verwaltungsgerichtshof wissen, ob Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung benannte nationale Stelle befugt ist, einem Eisenbahnunternehmen, dessen Entschädigungsbedingungen nicht den in Art. 17 der Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, den konkreten Inhalt der von diesem Eisenbahnunternehmen zu verwendenden Entschädigungsbedingungen verbindlich vorzuschreiben, wenn das nationale Recht dieser Stelle lediglich die Möglichkeit einräumt, derartige Entschädigungsbedingungen für unwirksam zu erklären.
45. Ich erinnere daran, dass nach Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 jede für die Durchsetzung der Verordnung zuständige Stelle sicherzustellen hat, dass die Rechte der Fahrgäste gewahrt werden.
46. Es steht fest, dass Unionsverordnungen zwar unmittelbar gelten und in den nationalen Rechtsordnungen allgemein unmittelbare Wirkung entfalten, doch hat der Gerichtshof ihre Wirkungen eingeschränkt, wenn mitgliedstaatlichen Behörden ein gewisses Ermessen hinsichtlich des Erlasses von Durchführungsmaßnahmen eingeräumt wurde.
47. Im Urteil SGS Belgium u. a. (C‑367/09) wurde entschieden, dass die Art. 5 und 7 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften nicht die alleinige Grundlage für verwaltungsrechtliche Sanktionen nach dem Recht der Mitgliedstaaten sein können, weil sie lediglich „allgemeine Regeln für Kontrollen und Sanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft“ aufstellen. Der Gerichtshof erinnerte auch an den allgemeinen, nunmehr in Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommenden Grundsatz des Unionsrechts, dass „eine verwaltungsrechtliche Sanktion nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nur verhängt werden kann, wenn sie in einem Rechtsakt der Union vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde“, und dass „eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden darf, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht“. Dies deutet darauf hin, dass der Gerichtshof eher zurückhaltend mit der Schlussfolgerung sein sollte, dass Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007 der Schienen-Control Kommission eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Anordnung der vor dem nationalen Gericht angefochtenen Maßnahme verschafft, wenn eine solche Befugnis im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.
48. Es ist richtig, dass der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung nach der sogenannten Costanzo-Doktrin entschieden hat, dass „[d]ie nationalen Gerichte und die Verwaltungsorgane … das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen [haben], indem sie entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts gegebenenfalls unangewandt lassen“.
49. Den Akten ist zu entnehmen, dass die Sache im Verlauf eines Verwaltungsverfahrens, in dem die Schienen-Control Kommission eine Änderung der Entschädigungsbedingungen der ÖBB-Personenverkehr AG für den Verkauf von Fahrscheinen im Eisenbahnverkehr erreichen wollte, vor den Verwaltungsgerichtshof gelangt ist. Wie durch die vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen geklärt worden ist, hat die Schienen-Control Kommission zwei Arten von Funktionen.
50. Erstens wird sie in Fällen wie denen, um die es im Urteil Westbahn Management ging, quasi als Verwaltungsgericht im Kontext eines kontradiktorischen Zwei-Parteien-Verfahrens tätig. Wie der Gerichtshof in diesem Urteil bestätigte, besitzt sie die erforderlichen Eigenschaften, um die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien in Bezug auf Unabhängigkeit und Zusammensetzung zu erfüllen.
51. Im vorliegenden Verfahren hat die Schienen-Control Kommission dagegen die Rolle einer Verwaltungsbehörde, der im Rahmen der Durchsetzung der Verordnung Nr. 1371/2007 die Aufgaben der zuständigen nationalen Stelle übertragen wurden.
52. Genauer gesagt wird nach § 78a EisbG die österreichische Behörde für die Überwachung von Eisenbahntätigkeiten – die als private Gesellschaft mit beschränkter Haftung ausgestaltete Schienen-Control GmbH – in Bezug auf die Anwendung der Verordnung Nr. 1371/2007 als Vermittler zwischen Fahrgästen und Eisenbahngesellschaften tätig.
53. Nach § 78a Abs. 2 EisbG sind die in Art. 30 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1371/2007 erwähnten Beschwerden von Fahrgästen an die Schienen-Control GmbH zu richten. Beschwerden können auch von Vereinigungen und bestimmten öffentlichen Stellen erhoben werden. Die Schienen-Control GmbH kann in der Sache unverbindliche Empfehlungen abgeben. Ihre Zuständigkeit besteht unbeschadet der Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte und der Behörden. Das bedeutet, dass ein Fahrgast ein Zivilverfahren gegen das Eisenbahnunternehmen einleiten und gegen die Anwendung von Entschädigungsbedingungen vorgehen kann, die seines Erachtens mit dem Unionsrecht unvereinbar sind.
54. Nach § 78b Abs. 1 EisbG informiert die Schienen-Control GmbH die Schienen-Control Kommission, wenn es durch die Vermittlung zu keiner einvernehmlichen Lösung gekommen ist.
55. Die Schienen-Control Kommission kann nach § 78b Abs. 2 EisbG von Amts wegen die Entschädigungsbedingungen eines von einem Eisenbahnunternehmen formulierten Vertrags für die Zwecke von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 ganz oder teilweise für unwirksam erklären.
56. Diese Entscheidung kann von dem Eisenbahnunternehmen vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochten werden. Die Schienen-Control Kommission hat dann die Rolle des Beklagten im gerichtlichen Verfahren. Daher kann die Schienen-Control Kommission in einem derartigen Kontext nicht als Gericht betrachtet werden, weil sie die gegnerische Partei im Rechtsstreit mit der ÖBB-Personenverkehr AG ist.
57. Wie weit die gemäß der Costanzo-Doktrin für Verwaltungsbehörden bestehende Verpflichtung, „das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem sie entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts gegebenenfalls unangewandt lassen“, auch gehen mag, kann sie sich doch nicht auf eine Pflicht dieser Behörden erstrecken, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Schaffung wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelfe nachzukommen, um die Durchsetzung unionsrechtlicher Ansprüche sicherzustellen.
58. Außerdem müsste die Schienen-Control Kommission im vorliegenden Fall nicht ein mitgliedstaatliches Gesetz „unangewandt lassen“, sondern eine im österreichischen Recht nicht vorgesehene Befugnis ausüben. Mit anderen Worten würde die Anordnung, die die Schienen-Control Kommission treffen möchte, nicht an die Stelle der in § 78b EisbG erwähnten Erklärung treten, sondern dem Eisenbahnunternehmen stattdessen eine zusätzliche Verpflichtung auferlegen.
59. Im Licht der vorgenannten Grundsätze und des Wortlauts von Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 halte ich es für unmöglich, diese Bestimmung in dem Sinne auszulegen, dass sie der Schienen-Control Kommission eine Ermächtigung verleiht, Eisenbahnunternehmen wie der ÖBB-Personenverkehr AG spezielle Anweisungen zur Änderung der Entschädigungsbedingungen zu erteilen. Eine solche Befugnis würde die Einräumung einer speziellen verwaltungsbehördlichen Zuständigkeit erfordern, ähnlich wie die Regel, nach der verwaltungsrechtliche Sanktionen auf eindeutigen und speziellen Rechtsgrundlagen beruhen müssen. Dabei ist Art. 30 der Verordnung Nr. 1371/2007 sogar noch offener formuliert als die vom Gerichtshof im Urteil SGS Belgium u. a. geprüften Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 2988/95, die, wie bereits ausgeführt, vom Gerichtshof als unzureichende Grundlage für die Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion angesehen wurden.
60. Daher schlage ich vor, die erste Frage in dem Sinne zu beantworten, dass Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1371/2007 dahin auszulegen ist, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung benannte zuständige nationale Stelle nicht befugt ist, einem Eisenbahnunternehmen, dessen Entschädigungsbedingungen nicht den in Art. 17 der Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, den konkreten Inhalt der von diesem Eisenbahnunternehmen zu verwendenden Entschädigungsbedingungen verbindlich vorzuschreiben, wenn das nationale Recht dieser Stelle lediglich die Möglichkeit einräumt, derartige Entschädigungsbedingungen für unwirksam zu erklären.
C – Ergänzende Bemerkungen
61. Ich bin allerdings der Auffassung, dass die Antwort auf die erste Frage zu ergänzen ist, um eine vollständige Beurteilung der in Rede stehenden Rechtsgrundsätze abzugeben. Bevor dies möglich ist, bedarf es einer umfassenderen Analyse der Verpflichtungen der ÖBB-Personenverkehr AG nach der Verordnung Nr. 1371/2007 und der Rolle des Verwaltungsgerichtshofs.
62. Kurz zusammengefasst liegt das wirkliche Problem hier darin, dass es offenbar keine nationalen Vorschriften gibt, die ausreichenden „Biss“ haben, um die wirksame Durchsetzung von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 zu gewährleisten. Nach den Angaben im Vorlagebeschluss und den Erklärungen der Schienen-Control Kommission würde, wenn Letztere die Entschädigungsbedingungen der ÖBB-Personenverkehr AB für unwirksam erklären würde, diese einfach erneut ähnliche Bedingungen erlassen. Dies führt zu einem „Ping-Pong-Spiel“ zwischen der Regulierungsbehörde und dem Eisenbahnunternehmen.
63. Obwohl diese Sachlage den Verdacht aufkommen lässt, dass aufgrund von Schwächen in den der Schienen-Control Kommission durch das österreichische Recht verliehenen Befugnissen, einschließlich des Fehlens angemessener Sanktionen, eine ordnungsgemäße Durchsetzung der Verordnung Nr. 1371/2007 in Österreich nicht gewährleistet ist, gibt es jedoch eine Grenze bei dem, was im vorliegenden Verfahren erreicht werden kann, um Abhilfe zu schaffen. Da der vorliegende Fall kein von der Kommission gegen Österreich eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren ist und wegen der offensichtlichen Beweisprobleme bin ich außerstande, dieser Frage weiter nachzugehen. Gleichwohl gibt es erwägenswerte und für die ÖBB-Personenverkehr AG und den Verwaltungsgerichtshof bindende unionsrechtliche Grundsätze. Sie sind auch für die Durchsetzung von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 relevant.
1. Verpflichtungen der ÖBB-Personenverkehr AG
64. Erstens ist die ÖBB-Personenverkehr AG nach den unionsrechtlichen Bestimmungen über die Rechtswirkungen von Verordnungen im mitgliedstaatlichen Recht verpflichtet, den von Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 vorgeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen, da er anders als Art. 30 dieser Verordnung den Mitgliedstaaten kein Ermessen belässt und daher kein Raum für nationale Umsetzungsmaßnahmen besteht. Mit anderen Worten hängt die Existenz gesetzlicher Verpflichtungen der ÖBB-Personenverkehr AG gegenüber Fahrgästen nach Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 in keiner Weise von der Existenz von Sanktionen oder Rechtsbehelfen auf nationaler Ebene ab.
65. Fest steht auch, dass unmittelbar anwendbare Vorschriften von Verordnungen – wie Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 – in Klagen zwischen Privatrechtssubjekten horizontal durchsetzbar sind.
66. Das bedeutet, dass die ÖBB-Personenverkehr AG rechtlich an Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 gebunden ist und dass sich Fahrgäste in jedem Zivilverfahren gegen die ÖBB-Personenverkehr AG wegen Fahrpreisentschädigung auf diese Bestimmung berufen könnten. Ich weise darauf hin, dass nach § 78a Abs. 2 EisbG die Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte durch das besondere Verfahren, an dem die Schienen-Control GmbH und später die Schienen-Control Kommission beteiligt sind, unberührt bleiben.
67. Ich bin mir bewusst, dass der Rückgriff auf ein zivilrechtliches Verfahren Verbrauchern, die den Fahrpreis für durch höhere Gewalt unterbrochene Reisen zurückerhalten wollen, keine praktikable Alternative bieten mag. Dies liegt u. a. an den kleinen Beträgen, um die es geht, und dem vergleichsweise großen Aufwand für einen Zivilprozess. Meiner Auffassung nach ist eine Anpassung der verfügbaren Zivilverfahren zwecks Durchsetzung der Verordnung Nr. 1371/2007 jedoch Sache des österreichischen Gesetzgebers. Demnach dürfte nicht geltend gemacht werden können, dass das österreichische Recht für die Verteidigung unionsrechtlicher Ansprüche der Fahrgäste aus Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 keinen Zugang zu Gerichten vorsehe.
2. Die Stellung des Verwaltungsgerichtshofs
68. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Der Verwaltungsgerichtshof ist zweifellos ein „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts und unterliegt allen sich hieraus ergebenden Verpflichtungen der mitgliedstaatlichen Gerichte. Das bedeutet somit, dass er nach Art. 4 Abs. 3 EUV (vormals Art. 10 EG) verpflichtet ist, „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung“ seiner Verpflichtungen aus den Verträgen, einschließlich der Wahrung der Rechte des Einzelnen aus Verordnungen, zu ergreifen. Nach ebenfalls gefestigter Rechtsprechung hat ein Gericht wie der Verwaltungsgerichtshof „den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für den Einzelnen aus den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen ergibt, und deren volle Wirkung sicherzustellen“.
69. Die Kommission führt in ihren schriftlichen Erklärungen aus, wenn zwischen der nationalen Durchsetzungsstelle und dem Eisenbahnunternehmen eine „Ping-Pong-Situation“ der oben in Nr. 62 beschriebenen Art die Anwendung der Entschädigungsgrundsätze der Verordnung Nr. 1371/2007 gefährde, sei es an den österreichischen Gerichten, zu entscheiden, ob die entsprechenden Bestimmungen des EisbG unangewandt zu bleiben hätten.
70. Mir ist bewusst, dass dem Gerichtshof vom Verwaltungsgerichtshof keine Fragen nach dessen eigenen Pflichten im Hinblick auf Sanktionen gestellt worden sind. Das heißt z. B., dass der Gerichtshof nicht ersucht worden ist, ein Problem wie in den Urteilen Comet und Rewe zu lösen, bei dem eine nationale Verfahrensvorschrift der Durchsetzung einer unmittelbar geltenden unionsrechtlichen Maßnahme entgegensteht. Der Gerichtshof ist auch nicht gebeten worden, eine Frage wie die in der Rechtssache Unibet vorgelegte zu prüfen, die u. a. eine etwaige Verpflichtung der nationalen Gerichte betraf, zur Ergänzung der nach nationalem Recht vorgesehenen Sanktionen einen neuen Rechtsbehelf zu schaffen, um eine unmittelbar geltende unionsrechtliche Maßnahme durchzusetzen. Die im Ausgangsverfahren vorgelegte Frage beschränkt sich vielmehr auf die Befugnisse der Schienen-Control Kommission, die meines Erachtens für die Zwecke der von ihr im vorliegenden Fall wahrgenommenen Aufgaben als Verwaltungsbehörde einzustufen ist. Da der Rechtsstreit jedoch vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Eigenschaft als Verwaltungsgericht zu entscheiden ist, erscheint unausweichlich die Frage nach den Rechtsbehelfen relevant, deren Bereitstellung das Unionsrecht von ihm verlangt.
71. Da es im vorliegenden Fall weder eine österreichische Verfahrensvorschrift gibt, die mit der auf die Urteile Comet und Rewe zurückgehenden Rechtsprechung unvereinbar wäre, noch ein Problem im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit einstweiligen Rechtsschutzes, verpflichtet das Unionsrecht, wie bereits ausgeführt, den Verwaltungsgerichtshof nicht zur Gewährung von Rechtsschutz über die nach österreichischem Recht bestehenden Möglichkeiten hinaus. Weder die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum effektiven gerichtlichen Rechtsschutz noch die Verpflichtungen des Verwaltungsgerichtshofs aus Art. 47 der Charta der Grundrechte verlangen von ihm weitere Schritte, und zwar aus zwei Gründen.
72. Erstens ist kein Eisenbahnfahrgast Partei des Ausgangsverfahrens. Die Durchsetzung der aus Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 erwachsenden Rechte wird vielmehr von einer Verwaltungsbehörde, der Schienen-Control Kommission, gegen eine Körperschaft, die ÖBB-Personenverkehr AG, betrieben. Letztere begehrt gerichtlichen Rechtsschutz gegen eine verwaltungsrechtliche Entscheidung, die ihrer Ansicht nach über den Aufgabenbereich der Behörde hinausgeht und sachlich falsch ist.
73. Zwar verleiht Art. 30 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1371/2007 Fahrgästen das Recht, Beschwerde bei der geeigneten nach Abs. 1 benannten Stelle einzureichen, wobei diese Rolle in Österreich von der Schienen-Control GmbH wahrgenommen wird, doch geht die Verordnung – abgesehen von der in Art. 32 vorgesehenen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzulegen – nicht darüber hinaus.
74. Meiner Auffassung nach bedeutet dies, dass die Durchsetzung der Verordnung Nr. 1371/2007 durch die Verwaltung Fahrgastrechte nur mittelbar schützt, was Zweifel daran begründet, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Rechten des Einzelnen und den Folgen, die dies für einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz hat, auf Verfahren zwischen einer Verwaltungsbehörde wie der Schienen-Control Kommission und einer ihrer Überwachung unterliegenden Einheit wie der ÖBB-Personenverkehr AG anwendbar ist.
75. Zweitens enthält die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu wirksamen Rechtsbehelfen jedenfalls kein Erfordernis für Verwaltungsgerichte, entgegen dem Verbot der reformatio in peius zu handeln oder Anordnungen auszusprechen, zu denen sie nach nationalem Recht nicht ermächtigt sind, abgesehen von einstweiligen Maßnahmen zum Schutz der Durchsetzung von Maßnahmen der Union bis zum Erlass des Endurteils. Hierbei möchte ich auf die Feststellungen des Gerichtshofs in den Randnrn. 40 und 41 des Urteils Unibet verweisen. Diese lauten:
„So hat der EG-Vertrag zwar für Privatpersonen mehrere Möglichkeiten der direkten Klage zu den Gemeinschaftsgerichten eröffnet, doch er wollte nicht zusätzlich zu den nach nationalem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue Klagemöglichkeiten zur Wahrung des Gemeinschaftsrechts vor den nationalen Gerichten schaffen (Urteil vom 7. Juli 1981, Rewe, 158/80, Slg. 1981, 1805, Randnr. 44).
Etwas anderes würde nur gelten, wenn es nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf gäbe, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1976, Rewe, Randnr. 5, sowie Urteile Comet, Randnr. 16, und Factortame u. a., Randnrn. 19 bis 23).“
76. Mir scheint es im österreichischen Recht sowohl unmittelbare wie auch inzidente Rechtsbehelfe zu geben, mit denen Eisenbahnfahrgäste rügen können, dass Österreich der Verordnung Nr. 1371/2007 nicht nachgekommen sei. Im vorliegenden Fall geht es auch nicht darum, dass Eisenbahnfahrgästen oder der Schienen-Control Kommission das Recht auf Zugang zu einem Gericht verwehrt würde, das das Herzstück der vom Gerichtshof unter der Rubrik des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes aufgestellten Grundsätze bildet.
77. Darüber hinaus steht fest, dass, wenn ein Mitgliedstaat in Ausübung seines Ermessens, „die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“, Raum für das Vorbringen gelassen hat, er sei dem Grundsatz der Effektivität nicht nachgekommen, das Unionsrecht die nationalen Gerichte lediglich dazu verpflichtet, „die innerstaatlichen Zuständigkeitsregeln so weit wie möglich dahin aus[zu]legen, dass sie zur Erreichung des Ziels beitragen, einen effektiven Schutz der den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht möglicherweise erwachsenden Rechte zu gewährleisten“ (Hervorhebung hinzugefügt).
78. Hinzuzufügen ist, dass die Befugnis der Gerichte, gegenüber Verwaltungsbehörden andere als einstweilige Anordnungen auszusprechen, auch aus einem anderen wichtigen Grund nicht als Teil des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes angesehen werden kann. Eine solche Zuständigkeit ist den Unionsgerichten im Verhältnis zu anderen Unionsorganen niemals verliehen worden. Es lässt sich daher schwer argumentieren, dass von den mitgliedstaatlichen Gerichten mehr verlangt werden sollte als von den Unionsgerichten.
V – Ergebnis
79. Gestützt auf diese Gründe schlage ich vor, die vom Verwaltungsgerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
Frage 1
Art. 30 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr ist dahin auszulegen, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung benannte zuständige nationale Stelle nicht befugt ist, einem Eisenbahnunternehmen, dessen Entschädigungsbedingungen nicht den in Art. 17 der Verordnung festgelegten Kriterien entsprechen, den konkreten Inhalt der von diesem Eisenbahnunternehmen zu verwendenden Entschädigungsbedingungen verbindlich vorzuschreiben, wenn das nationale Recht dieser Stelle lediglich die Möglichkeit einräumt, derartige Entschädigungsbedingungen für unwirksam zu erklären. Die rechtliche Verpflichtung eines Eisenbahnunternehmens, Art. 17 der Verordnung in seiner Auslegung durch die zuständigen nationalen Gerichte und den Gerichtshof nachzukommen, ist jedoch nicht von den Befugnissen der nationalen Stelle oder den ihr zur Verfügung stehenden Sanktionen abhängig.
Frage 2
Art. 17 der Verordnung Nr. 1371/2007 ist dahin auszulegen, dass ein Eisenbahnunternehmen seine nach dieser Bestimmung bestehende Verpflichtung zur Leistung von Fahrpreisentschädigungen in Fällen höherer Gewalt nicht ausschließen darf.